28.12.2023 · Steffi von dem Fange

Renate und Theo M.

Unser Gang in die Archive führt zu Akten der Gesundheitsämter, Heilanstalten und Justizverwaltung, in die seit Jahrzehnten kaum ein Blick geworfen wurde. In den beigefügten Leselisten finden sich nur wenige Namen, wenn überhaupt. 

Vertieft man sich jedoch in die alten handschriftlichen Briefe, Aktenvermerke und Behördenschreiben, formt sich langsam ein Verständnis der Lebenswege von Betroffenen der NS-Medizinverbrechen.

Begleitet wird diese Beschäftigung von einem zunehmenden Entsetzen über das Leid des Einzelnen und das schiere Ausmaß des staatlichen Übergriffs auf die Körper und das Leben seiner Bürger*innen. 

Einige dieser Lebenswege – oder auch nur Ausschnitte davon, soweit sie eben rekonstruierbar sind – von Weimarer Betroffenen werden in den nächsten Monaten auf dieser Webseite vorgestellt. 

Bevor die Recherchen beendet und die Biographien hier veröffentlicht werden können, sollen folgende biographische Skizzen einen ersten Eindruck der damaligen Geschehnisse vermitteln.

Am 23. März 1940 erblickte Renate M. das Licht der Welt. Ihr Eltern Hildegard und Josef wohnten in Weimar in der Windischenstraße 7, hinter dem Rathaus gelegen. Vater Josef stammte aus einer katholischen Familie, die vor einigen Generationen aus Österreich nach Thüringen kam. Er war Tischlermeister und hatte seine Werkstatt im Wohnhaus der Familie.

Glückliche Momente im Krieg

Renates Großcousine berichtet später, Renates Blick sei immer verträumt und abwesend gewesen. Ihre Familien verbrachten gern gemeinsame Tage am Weimarer Gehädrich, einem kleinen Gehölz im Süden der Stadt. Der dort gelegene Garten wurde „Adlerfarm“ genannt, ganz der Karl-May- und Indianer-Begeisterung der Zeit entsprechend, mit einem wohnlich eingerichteten Häuschen ohne Wasser- und Stromanschluss, in dem eine Karbidlampe für Licht sorgte. Unter den Kirschbäumen spielte Renates Großcousine, während Renate und ihr um ein Jahr jüngerer Bruder auf einer Decke auf der Wiese saßen und zusahen. Renates Blick glitt dabei oft „in eine andere Welt“, erinnert sich ihre Cousine.1

Anlage von Akten

Zu diesem Zeitpunkt, im Sommer 1943, hatte Renate schon von Professor Ibrahim, dem Leiter der Jenaer Kinderklinik, die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ erhalten und war dem Weimarer Gesundheitsamt gemeldet worden.2 Ibrahims Anzeige hatte den Zweck, das Gesundheitsamt eine Akte zu dem Kind anlegen und eventuell weitere „rassehygienische Maßnahmen“ wie die Sterilisation ergreifen zu lassen. Die Anzeige durch Professor Ibrahim 1942 führte dazu, dass Weimars Amtsarzt Freienstein Renate mit ihrer Mutter vorlud und das Kind untersuchte. Die Kleine war seiner Akte zufolge blond und kräftig, normal gebaut und lebhaft, doch konnte sie laut Freienstein weder schreien noch stehen oder laufen. Er bestätigte Ibrahims Diagnose auf „Schwachsinn“ und notierte in seinen Unterlagen dann auch: „Frist 1954“ – mit 14 Jahren würde sich Renate M. wieder vorstellen und den Prozeß zur Zwangssterilisation durchlaufen müssen.3

Onkel Theo

Bei diesem Untersuchungstermin erkundigte sich der Amtsarzt auch nach der „Sippe“ Renates und erfuhr erstmals von Theodor M., ihrem Onkel, der im Januar 1914 in Weimar geboren wurde und als „geistig zurück“ galt.4 Theodor wurde als Kleinkind im Weimarer Sophienhaus behandelt, da er sich mit drei Monaten ständig gestreckt hatte. Später zeigte sich bei ihm eine Lähmung.5

Auch Theo wurde, als er zwei Jahre war, mit seiner Mutter bei Professor Ibrahim in Jena vorstellig. Mehrere Ärzte untersuchten das Kind und machten den Eltern wenig Hoffnung: Er werde nicht älter als acht, neun Jahre.6

Mit drei Jahren lernte Theo laufen, und mit sieben wurde er in die katholische Schule Weimars eingeschult. Zu Hause beschäftigte er sich am liebsten mit Holzsägen und Hämmern.

Da er in der Schule nicht mitkam, lebte er ab 1925 – mit elf Jahren – im Antoniusheim in Fulda und besuchte dessen Schule.7 In seiner Heimakte ist vermerkt, er habe an einer spastischen Lähmung und „Idiotie“ gelitten.8 Der zarte und freundliche Junge erziele über die gesamte Aufenthaltsdauer im Heim kaum schulische Erfolge, zeige sich recht still und habe ein langsames Wesen.
Ab 1930 ging er in die Werkschule und lernte das Stuhlflechten. Inzwischen zeigte sich der 16-jährige Junge ängstlich und energielos.
Anfang Juni 1930 holten ihn seine Eltern ab, damit er zu Hause im Weimarer Richthofenweg (heute der Rembrandtweg am Zeppelinplatz) „Urlaub“ machen konnte. Offenbar bekamen sie den Eindruck, dass der Aufenthalt im Antoniusheim Theo nicht (mehr) guttat. Sie brachten ihn nicht wieder zurück und betreuten ihn von nun an selbst.9

Theos Vater starb einige Jahre darauf an einer Lungenentzündung. Seine Mutter, die neben Theo noch sieben weitere, inzwischen erwachsene Kinder hatte, kümmerte sich allein weiter um ihren Sohn. Mit einem klaren Gespür für Gefahren, die ihrem Kind drohten, bemühte sie sich, keinerlei Aufmerksamkeit auf Theo zu lenken. Und der folgsame Junge, der zu Hause gern aus dem Fenster schaute, verließ willig seinen Fensterplatz, wenn sie ihn ermahnte. Solche Ermahnungen hörte er in den dreißiger und vierziger Jahren regelmäßig, da SA- und SS-Angehörige häufig im Viertel unterwegs waren. Mit den Nachbarn im Richthofenweg verstand sich Anna M. gut, und auch sie hielten sich bezüglich Theo bedeckt.10

So hatte Theo das Glück, von der nationalsozialistischen Gesundheitsbürokratie zunächst nicht erfasst zu werden. Das änderte sich nach der Untersuchung seiner Nichte Renate M. durch den Amtsarzt Freienstein. Nun wurden auch Theodor und seine Mutter Anna vorgeladen.
Anfang Juli 1942 diagnostizierte Freienstein ihn als „imbezill“, an „angeborenem Schwachsinn mittleren Grades“ leidend, und vermutete eine „cerebrale Kinderlähmung“.11 Der inzwischen 28-Jährige war 1,64m groß und noch immer zart gebaut, blond und blauäugig, und er hatte ein freundliches Wesen. Bei der Untersuchung wirkte er laut Aktenvermerk unsicher und sehr angespannt. Anziehen könne er sich, so Freienstein, nur mit Hilfe anderer, rechnen, lesen und schreiben könne er auch nicht. Auf die Frage nach dem Namen des „Führers“ antwortete er „Heil Hitler“.
Einen Antrag auf Unfruchtbarmachung stellte Freienstein nicht, da kein Risiko bestehe, dass Theo ein Kind zeuge. Die 65-jährige Anna M. machte, wie er notierte, einen „sehr guten Eindruck“. Ihr Sohn solle erst nach ihrem Tod in eine Anstalt verbracht werden.12

Anna M. überlebte das „Dritte Reich“, und Theo verließ bis zu dessen Ende stets den Fensterplatz, wenn sie ihn ermahnte.

Flucht aus der Stadt

Im Laufe des Jahres 1943, anderthalb Jahre nach Renates Untersuchung beim Gesundheitsamt, gab es in Weimar hundert Fliegeralarme und einen Luftangriff auf den Bahnhof mit vier Toten.13 Am Jahresende dachte Hildegard M. darüber nach, wie sie ihre Kinder vor drohenden Bombardierungen schützen konnte. Ihr Mann war seit Jahren an der Front.
Sie fasste den Entschluss, mit dem jüngeren Sohn die Stadt zu verlassen und Schutz auf dem Land zu suchen. Renate sollte solange in einer Anstalt untergebracht werden. Sie wurde mit diesem Ansinnen beim Gesundheitsamt vorstellig.14 Am 9. Dezember 1943 stellte Freienstein eine amtsärztliche Bescheinigung aus, dass für die „dauernd pflegebedürftige“ Renate eine sofortige Anstaltsunterbringung erforderlich sei.15 Diese legte Hildegard in der „Anstaltsabteilung“ des Wohlfahrtsamtes am Graben 6 vor.

Das Anna-Luisen-Stift

Die dreijährige Renate wurde in das Anna-Luisen-Stift in Bad Blankenburg bei Rudolstadt aufgenommen. Um diese Anstalt, geführt von den zwei Diakonissen Frieda Lätzsch und Ida Cyliax, rankten sich seit den 1920er-Jahren Gerüchte über körperliche Mißhandlungen der dort untergebrachten Kinder und schlechte hygienische Verhältnisse. Die Sterberaten der Kinder waren seit Jahren überdurchschnittlich hoch. 1941 sollte das Stift geräumt und zu Zwecken der Kinderlandverschickung genutzt werden. Die im Stift untergebrachten Kinder wurden in die Landesheilanstalten Stadtroda gebracht und fielen dort durch ihre Verlaustheit auf. Sie alle litten an ausgeprägter Krätze, was die – aktiv ihre Patient*innen ermordenden – Anstaltsärzt*innen zu Beschwerden veranlasste.16 Der Leiter Kloos bemängelte die offensichtlichen unhaltbaren hygienischen Zustände in Bad Blankenburg, Forderungen nach einer Versetzung der Schwestern wurden laut. Doch der für das Stift zuständige Amtsarzt – der „Ballastexistenzen“, wie er die Kinder selbst nannte, keine Träne nachweinte17 –, der Landrat sowie der Vorstand des Anna-Luisen-Stifts leugneten die Zustände. Auch den Pfarrer Phieler der Inneren Mission Mitteldeutschland interessierte – im Wissen um die Vorwürfe – nur die Wirtschaftlichkeit des Stiftes.18 Ende 1943 wurde die Auseinandersetzung vom Rudolstädter Landrat als „unnütze Verwaltungsarbeit in weniger kriegswichtigen Angelegenheiten“ bezeichnet und die politische Zuverlässigkeit der Schwestern hervorgehoben:

„Fest steht auch, daß sich beide Schwestern in jahrzehntelanger Arbeit eine große Erfahrung in der Betreuung idiotischer und unsauberer Kinder erworben haben. Beide Schwestern haben als gute alte Nationalsozialistinnen bis jetzt auch immer ihre Pflicht getan und tun sie auch weiter. Da ist es nicht nötig, sie, wie es auch das Betreiben des Mutterhauses der Inneren Mission zu sein scheint, abzuberufen und durch andere, womöglich orthodoxe Diakonissen ersetzen zu wollen.“19

Der Vorstand verweigerte vehement die Berufung neuer Diakonissen – sogar gegen die Interessen des Mutterhauses in Eisenach. Damit setzten sie sich durch, Lätzsch und Cyliax behielten ihre Stellungen. Cyliax wurde kurz darauf sogar in den Vorstand des Stifts gewählt.
Sehr viel später stellte sich heraus, dass der Vorstand von dem umfangreichen Schwarzhandel, den die Schwestern mit den Lebensmitteln für die Kinder betrieben, profitiert hatte. Sie machten, anders als andere solche Einrichtungen, Gewinne, während die Kinder verhungerten.20

Nachdem im November 1941 der Betrieb des Stifts nach einer kurzen Pause also wieder aufgenommen worden ist, wurden weiterhin Kinder mit Behinderungen eingewiesen, von denen einige stark pflegebedürftig waren und um die sich im Stift nicht hinreichend gekümmert wurde. Ab 1943 stiegen die Todeszahlen noch einmal stark an.21

Zu Beginn des Jahres 1944 kam Renate M. nach Bad Blankenburg. Auf dem Foto vom Sommer 1943, das sie mit ihrem Bruder auf der Wiese im Garten sitzend zeigt, sieht man ein zufrieden wirkendes, gut genährtes Mädchen. Die Unterbringung im Stift überlebte Renate nur drei Monate.
Am 29. März 1944 zeigte Schwester Frieda Lätzsch dem Bad Blankenburger Standesbeamten den Tod des Mädchens an. Sie sei am Vortag an „angeborenem Hirnschaden mit schwerem Schwachsinn“ gestorben. Auf dem Belegungsbogen des Heims von März 1944 ist zu Renate M.s Todesursache vermerkt: „Krämpfe“22 – eine in diesen Unterlagen sehr häufige Angabe. Sechs weitere Kinder starben in diesem Monat, drei von ihnen laut „Abgangsmeldung“ des Stifts an das Thüringische Ministerium des Innern an „Krämpfen“, die drei anderen an „angeborenen organischen Hirnleiden“.23 Renates Leichnam wurde nach Weimar überführt und dort bestattet.

Renates Mutter erwähnte später in der Familie, dass die Kleine ja nur mal zur Kur fuhr, „und dann kam sie nicht wieder“.24

Überleben

Renates Onkel Theo M. entkam der Unterbringung in „rassehygienisch“ ausgerichteten Heimen, Kliniken und Anstalten. Er überlebte den NS-Staat.

Theodor M. verbrachte den Rest seines Lebens in Familienpflege. Als seine Mutter sich nicht mehr um ihn kümmern konnte, wurde er in die Familie seiner Schwester aufgenommen. Später betreuten ihn Georg M., sein Neffe und jüngerer Bruder von Renate, und dessen Frau Dorothea mit liebevoller Zuwendung, von der ein ihm gewidmetes Fotoalbum Auskunft gibt. Stolz verewigt sich Theo darin mit seiner Unterschrift. Er wird 94 Jahre alt.


Quellennachweise

Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar:

  • Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1126
  • Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125
  • Thüringisches Ministerium des Innern E 351
  • Thüringisches Ministerium des Innern E 352

Gespräch mit Angehörigen in Weimar am 12. Oktober 2023

Jürgen Wollmann, Christoph Schellenberger, Karolin Schulz, Ilka Hesse, Lebenswert – Arbeitshilfe für die Jugendarbeit, Evangelische Kirche in Mitteldeutschland 2009

Die Diakonissen und die Kindersärge, Dokumentarfilm des MDR, 25:02 f., abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Q7EQzr2A0B4&list=PL0JTU77EqVPZHgJyF4sfZYyGYNbCrPYvw

Stadtmuseum Weimar (Hg.), Bilder der Zerstörung. Weimar 1945. Fotos von Günther Beyer, Katalog zur Sonderausstellung im Stadtmuseum Weimar, Weimar 2015


Endnoten

  1. Gespräch mit der Familie am 12.10.2023
  2. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 2r
  3. Ebd. und LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 2v
  4. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 2v
  5. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 4v
  6. Ebd.
  7. Ebd.
  8. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 9r
  9. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 9v
  10. Gespräch mit der Familie am 12.10.2023
  11. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 6v
  12. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 7r
  13. Stadtmuseum Weimar (Hg.), Bilder der Zerstörung. Weimar 1945. Fotos von Günther Beyer, Katalog zur Sonderausstellung im Stadtmuseum Weimar, Weimar 2015, S. 61
  14. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 2v
  15. LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 1125, Bl. 3r
  16. LATh – HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 352, Bl. 26v und 27r
  17. LATh – HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 352, Bl. 26 f.
  18. Die Diakonissen und die Kindersärge, Dokumentarfilm des MDR, 25:02 f., abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Q7EQzr2A0B4&list=PL0JTU77EqVPZHgJyF4sfZYyGYNbCrPYvw
  19. LATh – HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 352, Bl. 57r
  20. Die Diakonissen und die Kindersärge, 24:31 f.
  21. Jürgen Wollmann, Christoph Schellenberger, Karolin Schulz, Ilka Hesse, Lebenswert – Arbeitshilfe für die Jugendarbeit, Evangelische Kirche in Mitteldeutschland 2009, S. 30
  22. LATh – HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 351, Bl. 28r
  23. Ebd.
  24. Gespräch mit der Familie am 12.10.2023