Die Menschen hinter den Zahlen

Es heißt, 300.000 Menschen seien im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet und 400.000 Menschen seien zwangssterilisiert worden.
„Ermordet“ heißt: Diese Menschen sind verhungert, haben Medikamentenüberdosen bekommen, ihnen wurde eine medizinische Behandlung verwehrt. Sie sind in Gaskammern und Gaswagen an Kohlenstoffmonoxid und Abgasen erstickt. Sie waren Patient*innen in Heil- und Pflegeanstalten, psychisch krank, nicht mehr arbeitsfähige Zwangsarbeiter*innen, geistig und körperlich behinderte Menschen, Säuglinge und Kinder, die als „Ballastexistenzen“ gewertet wurden.
Die Operationen zur Sterilisation musste vornehmen lassen, wer krank oder behindert oder sozial auffällig war: zuviel trank, zu häufig arbeitslos war, als Frau zu aufmüpfig war oder zuviel flirtete, wer in der Schule keine guten Leistungen erbrachte, kriminell war, Sexarbeit leistete. Es wurden ganze Familien zwangssterilisiert: Männer, Frauen, Kinder schon ab 12, 13 Jahren. Besonders in den ärmeren Stadtvierteln lebten die Betroffenen in direkter Nachbarschaft miteinander, ohne es zu wissen. Die wenigsten Opfer der Eugenikverbrechen sprachen darüber.

Das Schweigen setzte sich nach 1945 fort: Nur wenige Überlebende der nationalsozialistischen Eugenikverbrechen fanden die Kraft, anzusprechen, was ihnen widerfahren ist. Auch die Täter schwiegen; die Medien, die Politik, die Justiz, die Gesellschaft in beiden deutschen Staaten schwieg. Das Schweigen war und ist beredt: Es zeugt vom noch heute herrschenden Tabu der Krankheit, der Behinderung, der vermeintlichen Schwäche und des Stigmas, nicht leistungsfähig zu sein und deshalb nicht „dazuzugehören“. 
Das jahrzehntelange gesellschaftliche Verdrängen der NS-Eugenikverbrechen gründete auf der fortwährenden Akzeptanz eines rassistischen, ableistischen und menschenfeindlichen Weltbildes, das die Nazis nicht erfunden, aber zur Staatsräson gemacht haben. Das Mantra der nationalsozialistischen Machthaber von der „Minderwertigkeit“ kranker, behinderter, sogenannter „asozialer“ Menschen und vom „lebensunwerten Leben“ war allgemein akzeptiert und wirkt bis heute – erkennbar am Sprachgebrauch – nach. Auf Seiten der Betroffenen und ihrer Angehörigen verhinderten lange Zeit Scham und Verunsicherung die öffentliche – oder auch nur familiäre – Thematisierung. Wer von ihnen den Mut fand, die NS-Eugenikverbrechen zur Sprache zu bringen, wurde in BRD wie auch DDR erneut entwürdigt und ausgegrenzt – und stand unter Umständen damaligen Tätern gegenüber, die als „Sachverständige“ auftraten und erneut Karriere im Gesundheitswesen machten. Bis heute, 2024, fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, sind die Betroffenen der NS-Eugenikverbrechen nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.

Hinter jeder Patientenakte einer Heilanstalt oder Klinik, hinter jedem Verhandlungsprotokoll zu einem Sterilisationsverfahren verbirgt sich ein Mensch, der das über sich ergehen lassen musste, der sich wehrte oder in der Kürze der Zeit kaum wehren konnte. Manche Betroffenen verstanden nicht, was da passiert – oder verstanden es sehr gut und mussten erleben, wie ihnen jede Entscheidungsbefugnis über ihren eigenen Körper genommen wurde. Manche waren krank und erschöpft und dachten, ihnen würde in einer schwierigen Situation geholfen, sie vertrauten auf die Ärzt*innen und Pfleger*innen. Manche baten in zahllosen Briefen nach Hause darum, aus der Heilanstalt geholt zu werden. Manche glaubten, mit dem Verzicht auf eigene Kinder ein Opfer für die „Volksgemeinschaft“ zu bringen und sich damit dieser „Volksgemeinschaft“ würdig zu erweisen. 
Manche von ihnen lebten in Weimar: in der Rosmariengasse, in der Karlstraße, in der Windischenstraße, am Brühl, am Schießhaus, in der Humboldtstraße … in unserer und Ihrer Nachbarschaft. Ihre Lebenswege werden hier vorgestellt.