12.12.2024 · Carla Porges

Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein

Die im Juli 1811 eröffnete „königlich sächsische Heil- und Versorgungsanstalt Sonnenstein“ war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine human ausgerichtete Anstalt mit sehr guten Heilungserfolgen.1 Die Heilanstalt verfügte über ein Genesungshaus zur ambulanten Reintegration und zwei landwirtschaftliche Außenabteilungen. Im Jahr 1883 wurden zudem unter Direktor Dr. Guido Weber alle mechanischen Zwangsmittel abgeschafft.2

Mit Prof. Hermann Paul Nitsche als Direktor erhielt die Anstalt 1928 einen starken Befürworter nationalsozialistischer Gesundheitspolitik, was zu einem Umbruch im Umgang mit den Patienten führte. Auf Grundlage des von der Regierung verabschiedeten „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erfolgten ab 1934 Zwangssterilisationen an Sonnensteiner Patienten. Diese wurden im Stadtkrankenhaus Pirna durchgeführt.3

Im Jahr 1936 führte Nitsche eine von ihm entwickelte fettarme und fleischarme „Sonderkost“ für arbeitsunfähige Patienten ein. Zwei Jahre später wurde diese in Pirna erprobte „Sonderkost“ für „unproduktive“ und damit „lebensunwerte“ Patienten auf alle Anstalten in Sachsen ausgeweitet.4

Im Dezember 1939 erfolgte die Auflösung der Landesanstalt Sonnenstein auf eine Anordnung des sächsischen Innenministers.5
Nach einer kurzen Zwischennutzung als Lazarett diente Sonnenstein zwischen 1940 und 1941 als eine von sechs Tötungsanstalten der „Aktion T4“, in deren Zuge 13.720 vorwiegend psychisch kranke und geistig beeinträchtigte Menschen mit Kohlenmonoxid-Gas in Pirna ermordet wurden.6 Viele dieser Patienten kamen aus Sachsen und Thüringen, aber auch aus Franken, Schlesien, Ost- und Westpreußen und dem Sudentengau.7 Die Patienten wurden dabei nicht direkt aus den psychiatrischen Anstalten oder Pflegeheimen verlegt, sondern über verschiedene Zwischenanstalten wie zum Beispiel Zschadraß, Großschweidnitz, Waldheim und Arnsdorf nach Pirna gebracht.8

In Pirna angekommen, wurden die Patienten einem Arzt vorgestellt. Dieser legte die zu dokumentierende Todesursache für den Patienten fest. Danach wurden jeweils ca. 20 bis 30 Patienten zusammen in einer als Duschraum getarnten Gaskammer mit Kohlenmonoxid vergast. Direkt neben der Gaskammer befand sich der Leichenraum. Hier wurden den Ermordeten die Goldzähne entfernt und zum Teil Gehirne für Forschungszwecke entnommen.9 Anschließend wurden die Menschen in zwei Verbrennungsöfen verbrannt. Ein eigens geschaffenes Standesamt bekundete die Sterbefälle. Dabei wurden in der Regel neben der Todesursache sowohl das Sterbedatum als auch der Sterbeort gefälscht. 

Bereits Anfang 1940 entwickelte der ehemalige Direktor der Heilanstalt, Prof. Nitsche, das sogenannte Luminal-Schema, das zur dezentralen Tötung von Patienten in den Anstalten genutzt wurde.10 Nitsche wurde ab 1941 medizinischer Leiter der „Aktion T4“ und war somit einer der Haupttäter der zentral organisierten Krankenmorde. Als Leiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein wurde Dr. Horst Schumann eingesetzt. Unter ihm waren vier Ärzte beschäftigt. Neben der Festlegung der Todesursache waren die Tötungsärzte auch verantwortlich für die Umlegung des Gashahns und die Unterzeichnung der Sterbeurkunden und Trostbriefe an die Angehörigen. 

Unterstützt wurden die Ärzte von Pflegern und Schwestern. Das Pflegepersonal brachte die Patienten zu den Ärzten, hatte die Aufsicht über das Auskleiden und führte die Patienten in die Gaskammern. Elf Personen waren unter dem „Oberdesinfektor“ Karl Böhm für die Verbrennung der Toten zuständig. Außerdem arbeiteten noch über 20 Personen im Büro. Des Weiteren gab es Mitarbeitende in der Wirtschaftsabteilung und in der Transportabteilung. Gesichert wurde das Gelände von Polizisten und Hilfspolizisten.11 Insgesamt arbeiteten in Pirna Sonnenstein ca. 100 bis 110 Personen.12

Nach Einstellung der „Aktion T4“ wurden die aufgebauten Strukturen weiter genutzt für die Tötung von mindestens 1.031 Häftlingen aus den Konzentrationslagern Auschwitz, Buchenwald und Sachsenhausen, die zu diesem Zeitpunkt noch über keine eigenen Gaskammern verfügten.13 Die Tötung der KZ-Häftlinge lief unter der Bezeichnung „Sonderbehandlung 14f13“. Ärzte der „Aktion T4“, darunter auch Nitsche, bereisten ab Frühjahr 1941 die Konzentrationslager und selektierten KZ-Häftlinge. Im Rahmen der „Sonderbehandlung 14f13“ wurden so zum Beispiel 575 Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz nach Sonnenstein gebracht und dort vergast, bevor die Ermordung von Menschen mit Zyklon B vor Ort in Auschwitz durchgeführt wurde.14

Im Herbst 1942 wurde Sonnenstein geschlossen und die Gaskammer und Verbrennungsöfen zurückgebaut.15 Mindestens 39 Mitarbeiter aus Sonnenstein wurden aufgrund ihrer Erfahrung in der Tötungsanstalt für die „Aktion Reinhard“ in die Vernichtungslager Treblinka, Sobibór und Belzec nach Polen abkommandiert.16

Vom 16. Juni bis 7. Juli 1947 lief im Landgericht Dresden ein Prozess gegen 15 Beteiligte an den Krankenmorden. Vier der Angeklagten, darunter Nitsche, wurden zum Tode verurteilt.17

Heute befinden sich auf dem Gelände das Landratsamt, eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung sowie die im Jahr 2000 eröffnete Dauerausstellung.18 Zusätzlich machen Orte des Gedenkens in der Stadt Pirna die Vergangenheit sichtbar. Seit 2002 zieht eine Gedenkspur aus bunten Kreuzen durch die Stadt, und die Denkzeichen „Vergangenheit ist Gegenwart“ führen mit 16 Tafeln vom Bahnhof bis zur Gedenkstätte.19


Endnoten

  1. Boris Böhm, Pirna-Sonnenstein. Von der Reformpsychiatrie zur Tötung psychisch Kranker und Behinderter. Ärzte und Medizin im Nationalsozialismus, Ärzteblatt Sachsen 4/2005, S. 153. https://www.slaek.de/media/dokumente/ueber-uns/presse/aerzteblatt/archiv/2001-2010/2005/04/0405_153.pdf 
  2. Boris Böhm, Pirna-Sonnenstein. Von einer Heilanstalt zu einem Ort nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Begleitband zur ständigen Ausstellung der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Hrsg.: Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewalt, 2001, S.32.
  3. Böhm 2001, S. 50.
  4. Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Fischer Taschenbuch, 4. Auflage 2022, S. 74; sowie Böhm 2005, S. 154.
  5. Böhm 2001, S.57; Klee 2022, S. 265.
  6. Götz Aly, Die Belasteten „Euthanasie“ 1939-1945 – Eine Gesellschaftsgeschichte, Fischer Taschenbuch, 2. Auflage 2021, S. 48.
  7. https://www.stsg.de/cms/pirna/histort/krankenmord_auf_dem_sonnenstein
  8. Klee 2002, S. 160 sowie Böhm 2005, S. 154.
  9. Böhm 2001, S. 65.
  10. B. Böhm, H. Markwardt: Hermann Paul Nitsche (1876–1948). Zur Biographie eines Reformpsychiaters und Hauptakteuers der NS-„Euthanasie“. In: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hrsg.): Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Sandstein, Dresden 2004, S. 87, sowie Klee 2022, S. 395.
  11. Böhm 2001, S. 87.
  12. Böhm 2005, S. 154.
  13. Böhm 2005, S. 155.
  14. Klee 2022, S. 282.
  15. Klee 2022, S. 290.
  16. Böhm 2001, S. 111.
  17. Heide Blum, Aufruf letzter Zeugen – Spuren in die Vergangenheit, Dresden: medienbüro Heide Blum film- und fernsehproduktion, 2007; Götz Aly 2021, S. 59, Böhm 2005, S. 155.
  18. https://www.stsg.de/cms/pirna/histort/geschichte_der_gedenkstaette
  19. https://www.aktion-zivilcourage.de/angebote/jugendliche/erinnerungskultur/gedenkspur-spruhen-gegen-das-vergessen, https://www.stsg.de/cms/pirna/denkzeichen-vergangenheit-ist-gegenwart