09.03.2025 · Steffi von dem Fange

Erbgesundheitsgericht Weimar

Neue Gerichte für ein neues Gesetz

Das im Juli 1933 erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses war laut Gisela Bock „ein Sondergesetz im präzisen Sinn eines rassistischen Ausnahmegesetzes“1, es verankerte die nationalsozialistische Anschauung der „Rassenhygiene“ als Rechtsnorm.

Das Gesetz sah vor, Anträge auf Unfruchtbarmachung vor extra einzurichtenden Gerichten zu verhandeln und die Beschlüsse auch unter Anwendung von Zwang umzusetzen. So wurden für dieses Sondergesetz Sondergerichte geschaffen, die Erbgesundheitsgerichte. Erich Ristow, ein Rechtsanwalt und Autor des 1935er Standardwerks „Erbgesundheitsrecht“, machte die Bedeutung dieser Gerichte deutlich: „Die Tätigkeit der ErbGesGer. in Deutschland bedeutet Verwirklichung der nationalsozialistischen Weltanschauung, denn der Nationalsozialismus ist angewandte Rassenkunde“.2

In Kraft trat das Gesetz am 1. Januar 1934, bis dahin musste die nötige Infrastruktur gegeben sein. In Thüringen wurde am 23. Dezember 1933 angeordnet, dass an 18 Amtsgerichten Erbgesundheitsgerichte zu bilden seien. Das betraf die Orte Altenburg, Apolda, Arnstadt, Eisenach, Gera, Gotha, Greiz, Hildburghausen, Jena, Meiningen, Rudolstadt, Saalfeld, Schleiz, Sondershausen, Sonneberg, Stadtroda, Vacha und Weimar. 

Darüber hinaus wurde ein Erbgesundheitsobergericht am Oberlandesgericht Jena eingerichtet, das strittige Fälle in zweiter Instanz verhandeln sollte. 

Umsetzung des Sterilisationsgesetzes

Die Umsetzung des Gesetzes ging meist nach folgendem Muster vonstatten:

Das Gesetz verpflichtete alle approbierten Ärzte, Zahnärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Heilpraktiker und Masseure unter Aufhebung der Schweigepflicht, aber auch alle Staatsbeamten wie Bürgermeister, Lehrer und Schulleiter, Angestellte der Wohlfahrtsämter, Fürsorgeheime, Polizei usw. zur Anzeige von „Erbkranken“ bei den teils neu eingerichteten staatlichen Gesundheitsämtern.3 Nach Eingang der Anzeige untersuchten die Amtsärzte die Gemeldeten und „ermittelten“ – d. h. sie erkundigten sich bei der zuständigen Gemeindebehörde, bei Schulen, Wohlfahrts-, Jugend- und Fürsorgeämtern u. a. über sie. Auch Zeugen konnten sie vernehmen und Fürsorgerinnen zum Hausbesuch schicken, um die Wohn- und Familienverhältnisse zu prüfen. 

Mit einem ärztlichen Gutachten versehen stellten die Amtsärzte einen Antrag auf Unfruchtbarmachung, insofern sie eine der im Gesetz genannten „Krankheiten“ diagnostizieren können: 

 „angeborenen Schwachsinn“,

„Schizophrenie“,

„zirkuläres (manisch-depressives) Irresein“,

„erbliche Fallsucht“,

„erblichen Veitstanz (Huntingtonsche Chorea)“,

„erbliche Blindheit“,

„erbliche Taubheit“ und

„schwere erbliche körperliche Missbildung“,

außerdem „schwerer Alkoholismus“. 

Die Gutachten gaben Auskunft über „die Sippe“, also soziale und gesundheitliche Informationen zu Familienangehörigen (die gegebenenfalls ebenfalls zu sterilisieren waren), zum sozialen Werdegang, zur bisherigen Krankengeschichte der Betroffenen und zum körperlichen und psychischen Befund.4

Neben den Amtsärzten konnten die Leiter von Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten und von Strafanstalten sowie die Vormünder von Minderjährigen Anträge stellen. Auch die betroffenen Personen selbst, z. B. Insassen von Heil- und Pflegeanstalten, wurden dazu gedrängt. 1933 und 1934 erfolgten vergleichsweise viele solche Anträge, einige wurden in der Hoffnung gestellt, danach aus den Anstalten entlassen zu werden. Betroffenen wurde die Sterilisation als „eine Tat der Nächstenliebe und Vorsorge für kommende Geschlechter“5 und als ein zwar schweres, doch notwendiges Opfer für die Volksgemeinschaft vorgestellt. Gerade junge Frauen, die in der staatlichen Fürsorgeerziehung sind, wurden entsprechend beeinflusst.

Die Anträge gingen bei den „Erbgesundheitsgerichten“ ein und wurden dort verhandelt. Die Beschlüsse fällten je ein Richter, ein beamteter Arzt und ein nichtbeamteter Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre „besonders vertraut“6 war. Daraus ergab sich ein Ungleichgewicht zwischen medizinischen und juristischen „Fachleuten“, der Ärztestand war in besonderem Maße an der Umsetzung des Gesetzes beteiligt: Ärzte stellten die Anträge, schrieben die Gutachten, wurden zu weiteren Gutachten herangezogen, sie trafen die Beschlüsse, sorgten für ihre Umsetzung und führten die Operationen durch.

Schulung der Richter und Ärzte in Egendorf

Für die Ärzte und Richter an den Erbgesundheitsgerichten – eine Beteiligung von Laienrichterinnen wurde 1937 abgelehnt7 – fanden an der „Staatsschule für Führertum und Politik“ in Egendorf bei Blankenhain und in Bad Berka Schulungen in erbbiologischen und rassenhygienischen Themen statt, organisiert vom Landesamt für Rassewesen.


Im August 1933 berichteten alle thüringischen Zeitungen feierlich, dass im ersten „Rassehygienischen Ärzte-Schulungskurs“ in Egendorf die ersten 84 „Ärzte, die in vorderster Front für die deutsche Volksgesundheit kämpfen“, nun das „wichtigste Rüstzeug für die zur Rettung der Rasse notwendigen Maßnahmen“ erhalten haben.8

Der Artikel ist Teil einer reichsweiten medialen Kampagne zum Erlass des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Die Presse beschwört mit „geradezu endzeitlichem Pathos“, wie Gisela Bock in ihrem Standardwerk Zwangssterilisation im Nationalsozialismus schreibt,9 ein Bedrohungsszenario herauf, in dem das Überleben einer erbbiologischen Elite durch eine „minderwertige“, aber sehr fruchtbare Mehrheit der Bevölkerung gefährdet sei.10 Die im August 1933 in den Thüringer Zeitungen abgedruckten Worte verhehlen nicht, wohin die eugenische Politik führen sollte: Aus einem vermeintlichen „Kampf zur Rettung der Rasse“ wurde rasch ein „Kampf“ gegen „kranke und fremde Erbanlagen“, die sich in einzelnen Frauen, Männern, Kindern zeigen würdem, und damit ein Kampf gegen deren körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Für viele wurde die eugenische Gesundheitspolitik sogar rasch lebensgefährlich. Konsequenterweise kündigte die Weimarische Zeitung an: „Die zahlreichen Kursteilnehmer aus allen Kreisen Thüringens überziehen nun als die erste Eroberungswelle des rassehygienischen Sturmangriffs das Land“. Der Artikel endet mit dem Ausruf: „Thüringen an die Front!"11

Der „Mustergau“ in Sachen „Rassenhygiene“

Die erste „Eroberungswelle“ in Thüringen beraubte im Jahr 1934 1234 Menschen ihrer Fortpflanzungsfähigkeit – das sind 0,12 Prozent der Thüringer Bevölkerung.12 1937 berichtete Karl Astel, Direktor des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen und Leiter der Abteilung Wohlfahrt und Gesundheit im Thüringischen Ministerium des Innern, dass in Thüringen bis Weihnachten 1936 die acht Jahrgänge der 17- bis 24-Jährigen „durchsterilisiert worden“ seien – einer von hundert Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde unfruchtbar gemacht.13

Thüringen konnte auch bezüglich der Anwendung der „rassehygienischen Maßnahmen“ als Mustergau gelten, wurden hier doch auf Druck von Karl Astel wesentlich mehr Erbgesundheitsgerichte eingerichtet als gesetzlich vorgesehen. Damit sollte eine raschere Bearbeitung einer zugleich größeren Zahl an Fällen sichergestellt werden. Astels erklärtes Ziel war, aus Thüringen „das führende Land der Rassehygiene in Deutschland und in der Welt zu machen“.14

Anzeigeneifer und erbbiologische Bestandsaufnahme

Systematisch werden in diesen ersten Jahren reichsweit „Fälle“ abgearbeitet, die den Wohlfahrts-, Fürsorge- und Gesundheitsbehörden schon bekannt sind: vor allem in Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten untergebrachte Patient*innen, Langzeitarbeitslose, stadtbekannte Trinker, Gehörlose und Blinde und sozial auffällige, auf Unterstützung angewiesene Personen.

Gisela Bock schreibt über den reichsweiten Anzeigeneifer der Anfangszeit: 

„Viele dieser Behörden reichten pauschale, oft jahrgangsweise Sammelanzeigen ein, einzelne Wohlfahrtsämter zeigten ‘reihenweise’ oder für ‘eine ganze Straße’ an, oder sie überführten ihre Schützlinge, vor allem weibliche, in Heil- und Pflegeanstalten; im Sterilisationseifer der ‘Heißsporne, die glaubten, man müsse das Gesetz innerhalb von 5 Minuten am ganzen Volk vollstrecken’, wurden 60-80jährige, schon Sterilisierte oder bereits Verstorbene angezeigt.“15

All jene Anzeigen, die nach der Überprüfung im Gesundheitsamt in Anträge auf Unfruchtbarmachung mündeten, führten in Weimar zu einer Verhandlung im Amtsgerichtsgebäude in der heutigen Carl-von-Ossietzky-Straße. Über das Arbeitspensum am Weimarer Erbgesundheitsgericht berichtete Dr. Grobe, Amtsarzt des Landkreises Weimar und ärztlicher Beisitzer am Gericht, im Februar 1936, dass das Gericht im Sommer 1935 zeitweise überlastet gewesen sei „durch eine hohe Anzahl von Anträgen. In dieser Zeit ist es vorgekommen, dass Sitzungen von 2 1/2 bis 10 Uhr abends ununterbrochen andauerten“.16

Die hohe Anzahl von Anzeigen war erwünscht. Die Daten, die daraufhin von den Amtsärzten erhoben wurden, bildeten den Grundstock einer reichsweiten „erbbiologischen Bestandsaufnahme des deutschen Volkes“,17 die in Thüringen vom Landesamt für Rassewesen durchgeführt wurde. 

Diese Bestandsaufnahme nach rassenhygienischen Gesichtspunkten führte in Weimar zu regelmäßigen statischen Prüfungen in der Marienstraße 15, dem Sitz des Landesamtes für Rassewesen. Der Leiter des Landesamtes schätzte 1943, dass die Decke der Etage mit dem Karteiraum 492 Zentner tragen müsse. Hier lagerten 1937 die Karteikarten zu etwa einem Fünftel der Thüringer Bevölkerung. 

Gisela Bock schätzt, dass rund drei Prozent der damaligen deutschen Bevölkerung zwischen 16 und 50 Jahren – fast eine Million Menschen – zur Sterilisation angezeigt wurden.[iv] Von ihnen wurden bis 1945 ca. 400 000 Personen zwangssterilisiert.18 Rund der Hälfte von ihnen wurde „angeborener Schwachsinn“ unterstellt – eine bei den Antragstellern beliebte Diagnose, mittels derer auch jene erfasst werden konnten, die nicht der sozialen Norm entsprachen. In den Begründungen solcher Beschlüsse ist häufig die Rede von „mangelnder Lebensbewährung“ oder „Unfähigkeit zu sozialer Einordnung“,19 die als eindeutige Symptome einer Erbkrankheit dargestellt werden – insbesondere dann, wenn in der Verwandtschaft weitere solche „Fälle“ zu finden waren.

Ab 1935 mehrten sich die Proteste in der Bevölkerung gegen die Sterilisationen, es wurden mehr und mehr – meist erfolglose – Beschwerden bei Erbgesundheitsobergerichten eingereicht.20

Das war einer der Gründe, warum es ab 1937 zu einer Mäßigung des Anzeigeneifers kam. Bezüglich der Anzahl der Thüringer Erbgesundheitsgerichte setzte der Reichsminister Gürtner 1936 gegen den Widerstand von Astel durch, dass ab Februar 1937 nur noch sieben der 18 Erbgesundheitsgerichte ihre Arbeit fortsetzen sollten.21 Zu den Gerichten, die auzuheben waren, gehörte auch das Weimarer Erbgesundheitsgericht. Die Prozesse gegen Weimarer Bürger*innen wurden ab 1937 vom Erbgesundheitsgericht Jena übernommen, zugleich blieb das Amtsgericht Weimar Ort der Verhandlungen. In dessen Erdgeschoss sahen sich u. a. Klara Schwägler und Ida Werner vier Herren gegenüber, die darüber entschieden, ob sie Kinder haben durften oder nicht.

Die Zahl der Sterilisationen sank gegen Ende der dreißiger Jahre,22 während der Staat dazu überging, radikalere Methoden der bevölkerungspolitischen „Auslese“ anzuwenden: die Tötung von psychisch kranken oder behinderten Menschen, angefangen bei schwerstbehinderten Neugeborenen 1939.


Quellennachweise

Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar: 
Thüringisches Justizministerium Nr. 647
Volksbildungsministerium Weimar, Rassenhygiene, A218, 1933

Stadtarchiv Weimar:
Städtisches Krankenhaus Weimar – Krankenakten Bd. 1, 1937, Lfd. Nr. 874

Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, MV Wissenschaft, Münster 2010

Johannes Vossen: „Erfassen, ermitteln, untersuchen, beurteilen“, in: Margret Hamm (Hg.), Lebensunwert – zerstörte Leben, Frankfurt/Main 2005, VAS

Kristin Tolk: Therapeutische Unzulänglichkeiten und nationale Überzeugungen. Wie die Jenaer Psychiater um Hans Berger in der Zwischenkriegszeit ihre Patienten behandelten, Dissertation, Jena 2018

https://www.archive-in-thueringen.de/de/bestand/view/id/25030/searchall/Erbgesundheitsgericht


Endnoten

  1. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, MV Wissenschaft, Münster 2010, S. 111
  2. Bock, S. 111, Zitat aus: Erich Ristow, Einige Fragen aus der Praxis der Erbgesundheitsgerichte, in: JW 64 (1935), S. 1822-1828, hier S. 1822
  3. Bock, S. 295. Das System der flächendeckenden staatlichen Gesundheitsämter entsteht erst 1934 durch das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens. Bis dahin konnten Gesundheitsämter z. B. auch kommunal geführt werden, standen also unter der Aufsicht der Gemeinde. Die Einrichtung staatlicher Gesundheitsämter in jedem Stadt- und Landkreis Deutschlands zielt auf einen hierarchisch klar strukturierten Gesundheitsdienst ab, der reichsweit einheitliche Antworten auf – so die Präambel zum Gesetz – „Fragen, ob erbgesund oder erbkrank, leistungsfähig oder nicht leistungsfähig, bevölkerungspolitisch wichtig oder unwichtig“, liefern kann.
  4. Im psychiatrischen Teil des Gutachtenvordrucks finden sich Vorformulierungen wie „Hemmung“, „Sperrung“, „formale Störungen“, „Wahnideen“ und „Zwangsvorstellungen“, da die Amtsärzte meist keine Fachärzte für Psychiatrie waren.
  5. LATh-HStAW, Thüringisches Justizministerium Nr. 647, Bl. 98r
  6. Zitiert aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, § 6 (1), https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0136_ebn&object=translation&st=&l=de
  7. Bock, S. 222
  8. LATh-HStAW, Thüringisches Volksbildungsministerium A 218, Bl. 2r
  9. Bock, S. 93
  10. Bock, S. 121. Der Rassenhygieniker Fritz Lenz behauptet 1934 im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik: „So wie die Dinge liegen, ist nur noch eine Minderheit von Volksgenossen so beschaffen, daß ihre unbeschränkte Fortpflanzung wertvoll für die Rasse ist.“ Auf einem ähnlichen Gedanken beruhen heutige Vorstellungen von einem „Bevölkerungsaustausch“, auch „Überfremdung“, „Großer Austausch“ oder „Volksmord“ genannt, die von der Neuen Rechten und Verschwörungsideologen verbreitet werden.
  11. LATh-HStA Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium A 218, Bl. 2r
  12. Bock, S. 264
  13. Ebd.
  14. Brief von Astel an Regierungsrat Leffler, 18.6.33, LATh-HStAW, Volksbildungsministerium Weimar, Rassenhygiene, A218, 1933, Bl. 10
  15. Bock, S. 296
  16. LATh-HStAW, Ministerium des Innern E 1764, Bl. 33
  17. Vossen, S. 89
  18. Bock S. 232, Vossen S. 87
  19. Es wurden ebenso viele Männer wie Frauen zwangssterilisiert, allerdings starben Frauen wesentlich häufiger an den Operationen oder ihren Folgen. Sie machten 90 Prozent der Todesfälle aus. Vgl. Bock, S. 9.
  20. Z. B. in: StadtA Weimar, Städtisches Krankenhaus Weimar – Krankenakten Bd. 1, 1937, Lfd. Nr. 874
  21. Vossen, S. 96
  22. Vgl. Tolk, S. 245
  23. Siehe hierzu auch Bock, S. 258