13.09.2024 · Steffi von dem Fange
Renate Schoder
Renate Schoder wurde im Sommer 1928 in Weimar geboren.
Sie war ein Frühchen und kam schon mit vier Monaten in private Pflegestellen. Später lebte sie wieder bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Sie hatte zwei ältere Brüder, 1938 kam eine jüngere Schwester hinzu.
1935, als sie im Einschulungsalter war, wurde das Weimarer Gesundheitsamt auf sie aufmerksam und forderte beim Thüringischen Landesamt für Rassewesen eine sogenannte Sippschaftstafel1 an – mit besonderer Aufmerksamkeit für „Gehörstörungen in der mütterlichen Familie“, denn das Kind war gehörlos.2
Die Prüfung auf „Schulfähigkeit“ und ihre Folgen
Nicht nur prüfte der Kreisarzt Dr. Grobe Renates „Schulfähigkeit“, darüber hinaus stand ihre Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ in Frage.
Um „Volksgenossin“ sein zu können, hätte sie als zukünftig leistungsfähig, vor allem im wirtschaftlichen Sinne, eingeschätzt werden müssen. Eine erbliche Krankheit oder Behinderung minimierte die Chancen, vollwertiges Mitglied der „Volksgemeinschaft“ zu sein.
Diese „Volksgemeinschaft“ war kein bloßer Begriff der nationalsozialistischen Propaganda, sondern mit ihr verbanden sich konkrete Formen der gesellschaftlichen Ächtung jener, die aus rassistischen3, antisemitischen, ableistischen4, klassistischen5 und politischen6 Gründen als nicht zugehörig angesehen wurden: finanzielle Nachteile, rechtliche Einschränkungen, soziale Ausgrenzung. Der Ausschluß wurde ab Mitte der 1930er Jahre zum Massenmord in Heilanstalten, Konzentrations- und Vernichtungslagern radikalisiert.
Ermittlungen zur Familie
Eine Weimarer Lehrerin, die möglicherweise in einer Schulung durch das Landesamt für Rassewesen die Erstellung von „Sippschaftstafeln nach Astel“ erlernt hatte, stellte Ermittlungen zur Familie an und fand heraus, dass von 38 bekannten Personen fünf schwerhörig oder gehörlos waren – eingeschlossen die altersbedingte Schwerhörigkeit. In Renates mütterlicher Verwandtschaft waren drei betroffen: die Großmutter, die Tante und die Mutter.7
Diese dreizehn Prozent genügten offenbar, um dem Kind erbliche Taubheit zu bescheinigen. Kreisarzt Grobe legte zu Renate eine Akte im Gesundheitsamt an, die das spätere Verfahren zur Unfruchtbarmachung schon vorsah. Laut „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“8 sollten ab 1934 auch „erblich taube“ Menschen sterilisiert werden – wenn nötig unter Zwang. Renate hätte sich mit 14 Jahren erneut im Gesundheitsamt Weimar vorstellen müssen, das dann beim Erbgesundheitsgericht den Antrag auf ihre Unfruchtbarmachung gestellt hätte.
1935 schätzte der Amtsarzt Grobe die sechsjährige Renate als „nicht schulfähig für die Normal- oder Hilfsschule“ ein. Somit besuchte sie ab April 1935 die Gehörlosenschule in Gotha. Das bedeutet, sie verließ ihr Zuhause und lebte nunmehr in der „Thüringer Taubstummen- und Blindenanstalt“.
Die Thüringer Taubstummen- und Blindenanstalt
Diese Anstalt war die größte der drei Thüringer Anstalten9 und die einzige, in der auch blinde Kinder unterrichtet wurden. Die meisten der Kinder galten allerdings als „taubstumm“, waren also gehörlos oder schwerhörig. „Stumm“ waren sie keineswegs, sie nutzten Gebärden, um sich verständlich zu machen. Doch war die Gebärdensprache seit einigen Jahrzehnten im Unterricht verboten.10
Bei Renates Ankunft waren neun Lehrerinnen und Lehrer für den Unterricht von knapp neunzig Schülerinnen und Schülern zuständig, von denen die auswärtigen im der Schule zugehörigen Internat unterkamen.11 Die Internatskinder wurden von einem „Hauselternpaar“ beaufsichtigt.12 Die Kosten hierfür trugen die Eltern oder die Wohlfahrtsämter.
Bildungsziele: Lautsprache, Nationalstolz, Opferbereitschaft
Die meisten Kinder wurden bis zur Konfirmation beschult und danach nach Hause entlassen. Einige der blinden oder sehbehinderten Jugendlichen arbeiteten nach ihrer Entlassung in der Blindenwerkstatt in der Weimarer Gutenbergstraße.
Was erwartete die sechsjährige Renate in Gotha? Zeitgleich mit ihrer Ankunft in der Schule sandte der Reichsminister für Volksbildung seinen Entwurf neuer Lehrplanrichtlinien13 für „Taubstummenschulen“ nach Thüringen. Diesem Entwurf zufolge war die „oberste Aufgabe“ des Unterrichts, die „gehörlose Jugend zum Dienst am Volkstum und Staat im nationalsozialistischen Geist“ und zu „verantwortungsbewußten und opferbereiten deutschen Menschen“ zu erziehen.14
Chancen auf die Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ hatten die Kinder nur, wenn sie deren „wichtigstes Bindeglied“15 – die Sprache – erlernten. Das hieß: Renate musste sich Laut- und Schriftsprache aneignen. Auf die Gebärdensprache, die Sprache und Kultur der Gehörlosen, sollte sie verzichten.16 Kommunizieren sollte Renate, indem sie ihren Gesprächspartnern von den Lippen ablas und sich selbst lautsprachlich äußerte.
Neben Stimm- und Sprechübungen und dem Erlernen der Lautsprache standen Rechnen, Religion, Heimatkunde, später noch Geschichte, Erd- und Naturkunde auf dem Lehrplan. Im achten Schuljahr kamen Vererbungslehre, Rassenkunde, Rassenhygiene, Familienkunde und Bevölkerungspolitik hinzu.17 Mädchen sollten auf den „Beruf der Hausfrau und Mutter“ vorbereitet werden. Auf die Vermittlung von Fachkenntnissen wurde weniger Wert gelegt:
„Der Wissensstoff ist auf allen Gebieten auf das für das nationale Leben des werktätigen deutschen Menschen Wertvollste und Unentbehrlichste zu beschränken. Es müssen vor allem solche Stoffe zur Behandlung kommen, die geeignet sind, die innere Bereitschaft des taubstummen Menschen zum Dienst am Volkstum und Staat zu schaffen. Der Unterricht und das ganze Schulleben müssen stets auf die Erziehung der Schüler zu Mut und Selbstvertrauen, zur Wahrhaftigkeit, Opferwilligkeit, Unterordnung und Selbstbeherrschung bedacht sein.“18
Die hier angesprochene „Opferwilligkeit“, zu der die Kinder erzogen werden sollten, wurde bald auch praktisch eingefordert: Jene Schülerinnen und Schüler, deren Gehörlosigkeit als vererbt galt, sollten in ihre Sterilisation einwilligen, sobald sie das Alter dafür – üblicherweise ab 14 Jahren – erreicht haben. Um ihre Gegenwehr gering zu halten, sollte laut Lehrplanrichtlinien auch im Unterricht Druck ausgeübt werden:
„Die Taubstummenschule ist berufen, an ihrem Teil an der Durchführung der Maßnahmen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mitzuarbeiten. Sie muß bei ihren Schülern das Verständnis für die Maßnahmen der Regierung wecken, und sie, soweit sie davon betroffen werden, innerlich bereit machen, sich ihnen zu unterwerfen.
Die Vererbungslehre muß daher in der Taubstummenschule von der Vererbung der Taubheit ausgehen. […] Die Schule muß einzelne Fälle ihrer erbkranken Kinder auswerten, von denen die einen taubstumme Eltern, andere taubstumme Geschwister, taubstumme Großeltern oder sonstige taubstumme Verwandte haben und Stammbäume solcher Familien aufstellen. Dabei ergibt sich ganz von selbst ein Eingehen auf die Familienkunde und auf die wichtigsten Forderungen der Bevölkerungspolitik.
[…] Von der Taubheit erfolgt ein Eingehen auf andere Erbkrankheiten und auf die Forderungen der positiven Eugenik. Fragen der Rassenkunde und Rassenhygiene können nur in bescheidenem Umfange behandelt werden.
Das läßt sich aber auch bei den taubstummen Kindern erreichen, daß sie stolz sind auf ihr Deutschtum und bestrebt, sich würdig zu zeigen, Deutsche zu sein.“19
Das hier angesprochene Vorgehen spielte nicht nur in Gehörlosenschulen bzw. Schulen generell eine Rolle: Die Verlockung, zu einer vermeintlich elitären Gruppe wie der „Volksgemeinschaft“ zu gehören, verband sich im Grunde genommen für jede und jeden mit der stetigen Infragestellung, ob man sich dieser Zugehörigkeit auch als würdig erweist. Die hieraus folgende Unsicherheit und Fügsamkeit sollte politische Loyalität zu den Herrschenden fördern, deren Extreme sich z. B. in Selbstanzeigen zur Unfruchtbarmachung oder in der Mobilisierung von „Hitlerjungen“ in den letzten Kriegstagen 1945 zeigten.
Vorzeitige Entlassung …
Nach fünf Jahren in Gotha – Renate war nun elf Jahre alt – schrieb ihre Lehrerin einen folgenreichen Brief. Darin heißt es, Renate könne dem Unterricht nicht folgen und störe die anderen, „Spontansprache“ sei nicht erreicht worden und die „Ausgaben für die Schulausbildung der Renate Schoder müssen als völlig unfruchtbar angesehen werden“. Zusammenfassend schrieb die Lehrerin: „Weder die sehr mäßigen, schulischen Erfolge noch das Erziehungsergebnis einer 5jährigen Arbeit bieten eine Berechtigung zu der Hoffnung, dass […] [Renate] Schoder einmal ein nützliches Glied der Volksgemeinschaft wird.“20
Der Direktor der Anstalt bat daraufhin beim Weimarer Städtischen Wohlfahrtsamt – dem Kostenträger – um Unterbringung des Kindes im Anna-Luisen-Stift in Bad Blankenburg im Thüringer Wald. Hier sollte sie „zu praktischen Arbeiten im Haus und Garten erzogen werden“.21
… nach Hause
Doch kehrte Renate im Frühjahr 1940 zunächst zu ihrer Familie nach Weimar zurück. Dr. Knipping, Hilfsärztin des Gesundheitsamts, untersuchte sie erneut und erweiterte die Diagnose der Taubheit um die Scheindiagnose „angeborener Schwachsinn“.22 Die Diagnose wurde weitergemeldet an das Thüringische Landesamt für Rassewesen, das eine Erbkartei zur Thüringer Bevölkerung unterhielt. Nun war das Mädchen doppelt stigmatisiert, und umso unwahrscheinlicher es wurde, dass sich Renate doch noch einfügen und als nützlich erweisen würde, desto größer wurde die Gefahr für Leib und Leben.
Amtsarzt Freienstein, der inzwischen die Leitung des Gesundheitsamts übernommen hatte, instruierte die Mutter, keine weiteren Kinder zu bekommen und Renates Geschwister anzuhalten, sich ihre zukünftigen Ehepartner aus „Sippen“ ohne eine entsprechende „Belastung“ zu wählen.23
Eine Unterbringung in einem Heim wurde als sinnvoll, doch nicht notwendig erachtet. Daraufhin entschied das Wohlfahrtsamt – das der Kostenträger für eine Heimunterbringung wäre – offenbar zunächst, dass Renate Schoder bei ihrer Familie bleiben solle.
Die durch den Krieg praktisch alleinerziehende Mutter – der älteste Sohn war zwar, wie auch der Stiefvater, bei der Wehrmacht, die drei jüngeren Kinder lebten jedoch bei ihr – drängte einige Monate später auf eine Unterbringung des Kindes in einer Anstalt. Die familiären Verhältnisse wurden daraufhin geprüft. Ein Besuch vor Ort bestätigte die Aussage der Mutter, Renate habe einen „hemmenden“ Einfluss auf die jüngere Schwester, da diese ihre größere Schwester nachahme. Auch sei sie in den Geschäften der Umgebung aufdringlich. Im Bericht, der auf die Überprüfung folgt, heißt es: „Mann [sic!] gewinnt den Eindruck, daß […] [der Mutter] das taubstumme Kind sehr lästig ist. Sicherlich hat sie auch mit dem Mädchen viel Aerger [sic] u. Schererei.“ Die Empfehlung, Renate in einer Anstalt unterzubringen, folgt der Einschätzung, dass sie einen schlechten Einfluss auf ihre jüngere Schwester habe.24
Kein Heim, sondern eine „mustergültige“ Verwahranstalt für „Ballastexistenzen“
Im Februar 1941 wurde Renate im Anna-Luisen-Stift in Bad Blankenburg untergebracht. Das evangelische Stift fungierte zu dem Zeitpunkt schon seit vielen Jahren als Einrichtung zur Aufnahme von „bildungsunfähigen“ Kindern.26 Die beiden Diakonissen Ida Cyliax und Frieda Lätzsch schlugen ihre Pfleglinge systematisch, quälten sie und ließen sie verhungern.27 Diese Art der „Betreuung“ begann schon in den 1920er Jahren mit der Anstellung von Frieda Lätzsch und radikalisierte sich mit der Zeit.28
Dass im Stift viele Kinder starben, war schon lange ein Gerücht im Ort. Drei benachbarte Tischlereien waren mit der Herstellung von Kindersärgen beschäftigt, die ortsansässigen Bestatter kümmerten sich um die Beerdigungen, und die Stadt erhielt die Pacht für die Gräber29 – die überdurchschnittliche Häufigkeit der Todesfälle unter den Anstaltskindern war bekannt.
Die Zustände im Anna-Luisen-Stift beschreibt die Zeugenaussage einer Kinderpflegerin, die während Renates Aufenthalt den beiden Schwestern im Stift zur Hand gehen sollte. Sie schrieb:
„So z. B. waren die Kinder verdreckt und verlaust. Es kam sogar vor, dass an den Körpern der Kleinkinder Wanzen liefen, die ich selbst mit eigenen Augen gesehen habe und bezeugen lassen kann. Mir persönlich ist es passiert, dass ich mir selbst Läuse geholt habe. […] Die hygienischen Verhältnisse in dem Heim waren katastrophal. Z. B. ist es vorgekommen, dass Kinder Strümpfe vom Oktober 1940 bis Mitte Dezember 1940 anhatten, ohne [sie] jemals zu waschen oder irgendwie auszubessern. Windeln für die unsauberen Kinder waren grösstenteils überhaupt nicht vorhanden. […] Waschlappen, Handtücher, Seife waren […] nicht vorhanden. In einem Waschbecken mussten sich ca. 8 bis 10 Kinder waschen, ohne dass das Wasser einmal erneuert wurde. […] Die Wäsche und Kleidung der Kinder […] wurden durchschnittlich aller drei bis vier Wochen gewechselt. […] Beispielsweise ist mir einmal passiert, als ein Kind so brüllte und ich nachsah, was ihm fehlte, sah ich, dass das Kind vollkommen wund und über und über mit Eiterblasen am Gesäss usw. behaftet war. […] Schwester Frieda wandte immer ihre alte Methode an und steckte die Wickel mit Sicherheitsnadeln zu. Die Kinder wurden am Tage höchstens einmal gewickelt, und zwar […] früh.“30
Nach einigen Monaten kündigte die Kinderpflegerin, legte diese Bericht vor und musste sich dann der Diffamierungen von Seiten des Stiftsvorstands, des Leiters des zuständigen Gesundheitsamts Dr. Köhler und des Rudolstädter Landrats erwehren.31 Köhler bezeichnet die Vorwürfe der Pflegerin als „grobe Unwahrheit“32, die „frei erfunden oder maßlos übertrieben“ seien.33 Seine Sicht auf die im Stift untergebrachten Kinder legt er in folgenden Zeilen dar:
„Es wäre völlig verfehlt und mit den heutigen Anschauungen unvereinbar, diesen Ballastexistenzen ein Milieu zu schaffen, das besser ist, als die Umweltverhältnisse der wertvollen werktätigen Bevölkerung. Es muß eine Unterbringung angestrebt werden, die zwar dem allgemeinen Kulturzustand angepaßt ist, aber jeden übertriebenen Aufwand materieller Art vermeidet. Beide Schwestern des Hauses haben für diese Einstellung volles Verständnis und sind völlig frei von falscher Humanitätsduselei der vergangenen Zeit.“34
Wenige Monate nach Renates Ankunft hieß es, das Gebäude solle zu Zwecken der Kinderlandverschickung umgenutzt werden. Im September wurde Renate zusammen mit den anderen Kindern in die Landesheilanstalten Stadtroda verlegt.
Von einer Hölle in die andere
Später erklärte Renates Mutter, dass ihre Tochter laut Briefen der Schwestern in einem körperlich guten Zustand die Anstalt verließ. In Anbetracht der heute bekannten Zustände im Stift ist diese Aussage der Schwestern zweifelhaft. Überraschenderweise war es ein Rassenhygieniker, welcher vor Krankenmord nicht zurückschreckte, der gegen die Zustände im Anna-Luisen-Stift vehement protestierte: Der Leiter der Landesheilanstalten Stadtroda Gerhard Kloos berichtete dem Thüringer Innenministerium kurz nach der Ankunft der Kinder, dass sämtliche Kinder aus Bad Blankenburg von Krätzmilben befallen waren und „ein Bild schwerster Verwahrlosung“ boten. „Mehrere Kinder waren über und über mit […] Eiter-Beulen bedeckt“35 und die Mädchen „ausnahmslos stark verlaust“.36 Die Krätze und Verlausung seien „eine Verschmutzungsfolge“, ein „Wechsel des dortigen Erziehungs- und Pflegepersonals“ sei „im Interesse der Kinder erwünscht“.37
Innerhalb weniger Wochen verstarben 24 der 54 Kinder aus Bad Blankenburg in Stadtroda. Kloos nannte sie die „idiotischen, hochgradig verkrüppelten und lebensschwachen Kinder“. Der „übriggebliebene Rest“ sei „bildungsfähig“38 und könne z. B. zu „brauchbare[n] Hilfskräfte[n] in der Landwirtschaft werden“.
Er formulierte hier die Selektionskriterien, nach welchen in seiner Einrichtung Kranke getötet wurden.
Die planmäßige Ermordung von Patientinnen und Patienten in Stadtroda
Schon vor Kriegsbeginn, als die ersten reichsweiten, zentral organisierten Krankenmorde durchgeführt wurden, herrschte in der Heilanstalt eine „gezielte Politik der Vernachlässigung, die den Tod der Patienten zumindest billigend in Kauf nahm“.39 Das trifft insbesondere auf die 1934 eingerichtete Verwahrabteilung für „asoziale Offentuberkulöse“ und Geschlechtskranke zu. Die Patientinnen und Patienten wurden oft zwangseingewiesen, sie lebten hinter vergitterten Fenstern und unter der Aufsicht bewaffneter Pfleger40, ohne Therapien zu erhalten. Bei wem keine Aussicht auf Heilung bestand oder wer sich nicht kooperativ zeigte, der wurde bestraft, z. B. mit Dunkelhaft, Nahrungsentzug41 und Apomorphinspritzen, sogenannten „Kotzspritzen“.42 Einige der Insass*innen starben, nachdem sie Injektionen erhielten oder bestimmte Getränke zu sich nahmen.43 Dass die Unterbringung Tuberkulosekranker in Stadtroda „im Allgemeinen endgültig“ war – also durch den Tod der Patient*innen endete –, war den Fürsorgeärzten, Tuberkulosefachleuten und Mitarbeiter*innen der Landesversicherungsanstalten u. a. durch Studienreisen nach Stadtroda gemeinhin bekannt.44
Auch an der sogenannten Aktion T4 beteiligte sich die Heilanstalt Stadtroda. Im Herbst 1940 wurden mindestens 60 Patienten aus Stadtroda in die Heilanstalt Zschadraß bei Leipzig verlegt45, von dort wurden sie dann in die Anstalt Pirna-Sonnenstein gebracht, die ausschließlich zur Tötung von Kranken mittels Kohlenmonoxid diente.
Auf allen Abteilungen der Landesheilanstalten wurden Verpflegungskosten gespart, insbesondere ab Kriegsbeginn. Milchprodukte, Butter und hochwertige Lebensmittel wurden nicht mehr ausgegeben, eine auf die jeweilige Erkrankung abgestimmte Diätkost erhielt nur noch, wessen „Rückführung in den produktiven Arbeits- und Wirtschaftsprozess als gesichert“ erschien. Für das halbe Jahr von September 1939 bis März 1940 berechnete der Leiter Kloos eine Einsparung von 10.000 RM.46 Zum Tod der Patientinnen und Patienten trugen neben der Mangelversorgung auch die Verweigerung von Medikamenten und Therapie bei, das Nichtbeheizen der Räume,47 das Überdosieren von Beruhigungs- und Schlafmitteln, was u. a. zu Herz-Kreislauf-Schwächen oder Lungenentzündungen führte.
Die Tötung körperlich oder geistig behinderter Kinder wurde im Herbst 1942 durch Einrichtung einer Kinderfachabteilung unter der Leitung von Margarete Hielscher systematisiert. Reichsweit bestanden mehr als 30 solcher Abteilungen, in denen Kinder, die vom „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ nach Sichtung der ärztlichen Gutachten selektiert wurden, verhungerten oder an Entzug oder Überdosierung von Medikamenten starben. Als Todesursachen wurden in den Akten meist Herz-Kreislauf-Schwäche, Magen-Darm-Katarrh oder Pneumonie vermerkt.48
Doch schon vor Einrichtung der Kinderfachabteilung wurden Kinder im „Beobachtungsheim“, das ebenfalls von Margarete Hielscher geleitet wurde, getötet. Das Heim nahm kranke und sozial auffällige Kinder und Jugendliche auf, die über einige Wochen beobachtet, diagnostiziert und dann – wenn sie nicht zuvor gestorben sind – in Kinderheime oder Arbeitsstellen weitervermittelt wurden, manche sind auch nach Hause entlassen worden.
Renates letzte Monate in der Psychiatrie
Die im September 1941 aus dem Anna-Luisen-Stift nach Stadtroda verlegten Kinder wurden allerdings nicht auf der Station für Kinder und Jugendliche untergebracht, sondern in der geschlossenen psychiatrischen Einrichtung.49 Die Psychiatrische Abteilung verzeichnete die mit Abstand höchste Sterberate der Anstalt, 64 Prozent der Todesfälle ereigneten sich hier.
Für die Kinder des Beobachtungsheims war eine zeitweilige Verlegung in die Psychiatrie eine Bestrafungsmaßnahme – die Kinder aus dem Stift mussten dort über Wochen bleiben.
Nachdem die Umnutzungspläne für das Anna-Luisen-Stift aufgegeben wurden, wurden 22 der nach Stadtroda gebrachten Kinder im November 1941 wieder in das Stift zurückverlegt.50
Die inzwischen dreizehnjährige Renate musste allerdings nicht wieder nach Bad Blankenburg zurück. Sie blieb in den Landesheilanstalten in Stadtroda – möglicherweise war sie zu krank für den Transport.
Der Besuch der Mutter
Im Dezember, drei Monate nach Renates Ankunft, erkundigte sich ihre Mutter nach den Besuchszeiten. Der mütterliche Besuch ließ zwar lange auf sich warten, doch war Renate Schoder damit nicht allein: Der Besuch durch Angehörige war aufgrund der Entfernung und der geringeren Mobilität der Bevölkerung selten, und insbesondere bei Menschen, die in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren, kam die gesellschaftliche Stigmatisierung der Kranken und damit oft auch eine innerfamiliäre Distanzierung hinzu, die einen engeren Kontakt hemmte.51
Renates Mutter erhielt die Auskunft, der Gesundheitszustand ihrer Tochter gebe „zu ernstlichem Bedenken Anlass“. Eine solche „Verschlimmerungsmeldung“ erhielten Angehörige von Patient*innen häufig kurz vor deren Tod. Damit sollte der Eindruck erweckt werden, dass die Kranken eine „normale“ ärztliche Betreuung erhielten. Tatsächlich wurde die Verschlimmerung meist vom ärztlichen Personal selbst herbeigeführt, indem z. B. Medikamente überdosiert wurden.
Die Angehörigen wurden so spät informiert, dass sie einen Besuch meist nicht mehr vor dem Tod der Patient*innen einrichten konnten – man musste sich frei nehmen, eventuell eine Kinderbetreuung organisieren und eine Bahn- oder Busverbindung finden.
Über ihren Besuch der Tochter, bei dem der jüngere Sohn die Mutter begleitete, berichtete die Mutter Jahrzehnte später, dass sie zunächst sehr lange warten mussten, bis sie zu Renate geführt wurden. Der Anblick des Kindes sei „schrecklich“ gewesen, „sie war steif und bewusstlos. Der Körper des Kindes war blau, grün und blutunterlaufen. An dem Körper waren viele Stiche sichtbar.“ Zunächst glaubte sie, ihr Kind wäre schon tot, doch war es „jedoch noch ein lebendes Skelett“.52
Als Renate sich ein wenig bewegte und zu sich zu kommen schien, wurde die Mutter vom Klinikpersonal abgeholt, um Angelegenheiten der Beerdigung und Kostenfragen zu klären. Ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt wurde ihr verweigert. Nach der Rückkehr zu Renate lag diese wieder „steif und leblos da“.
Am nächsten Morgen, dem 6. Dezember 1941, starb Renate Schoder laut Patientenakte an einer „Pneumonie“ – eine für die damaligen Morde an kranken und behinderten Menschen typische Diagnose, die darauf hinweist, dass sie Barbiturate in Überdosierung erhalten hat. Sie wurde in Weimar feuerbestattet.
Gegen Ärzte und Pfleger der Landesheilanstalten Stadtroda wurden nach 1945 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Mord oder Beihilfe zum Mord eingeleitet. Sie wurden sämtlich wegen Mangels an Beweisen eingestellt.53
Die Schwestern des Anna-Luisen-Stifts, Ida Cyliax und Frida Lätzsch, wurden ebenfalls nicht zur Verantwortung gezogen: Ida Cyliax starb im Oktober 1945. Frieda Lätzsch wurde 1950 zwar wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt, doch mangels Beweisen freigesprochen.54
Quellennachweise
Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar:
- Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar 1667
- Thüringisches Volksbildungsministerium, A 1272, Angaben über die im Land Thüringen vorhandenen Taubstummen und Blinden
- Thüringisches Volksbildungsministerium, A 1289 Stundenpläne der Taubstummen- und Blindenanstalten
- Thüringisches Volksbildungsministerium A 1272, Angaben über die im Land Thüringen vorhandenen Taubstummen und Blinden
- Thüringisches Ministerium des Innern E 352
NS-Archiv des MfS EVZ II 77 Akte 6
Renate Renner: Zur Geschichte der Thüringer Landesheilanstalten / des Thüringer Landeskrankenhauses Stadtroda 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Dissertation, Universität Jena 2004, unveröffentlicht, ein Exemplar befindet sich in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena
Matthias Wanitschke (Hg.): Archivierter Mord. Der SED-Staat und die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Stadtroda, Quellen zur Geschichte Thüringens, LpB Thüringen 2005, abrufbar unter www.db-thueringen.de
Jürgen Wollmann, Christoph Schellenberger, Karolin Schulz, Ilka Hesse: Lebenswert – Arbeitshilfe für die Jugendarbeit, Evangelische Kirche in Mitteldeutschland 2009; abrufbar unter ekmd.de
Vortrag von Dörte Ernst zu den Eugenikverbrechen in den Landesheilanstalten Stadtroda, 29. Juni 2023, abrufbar unter https://www.beredtes-schweigen.de/vortrag-ns-eugenikverbrechen-in-weimar-und-stadtroda
Dr. Patrick Bernhard: Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben „Ermordung und pflegerische Vernachlässigung von Tuberkulose-Patienten in den Kliniken der gesetzlichen Rentenversicherung im Nationalsozialismus“, Potsdam/Oslo 2018, Zentrum für Zeithistorische Forschung; abrufbar unter www.fna-rv.de/SharedDocs/Downloads/Projektberichte/Projektbericht_2014-09.pdf;
Kristin Tolk: Therapeutische Unzulänglichkeiten und nationale Überzeugungen. Wie die Jenaer Psychiater um Hans Berger in der Zwischenkriegszeit ihre Patienten behandelten, Dissertation, Jena 2018, abrufbar unter: www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00035335
Renate Renner: Das Landeskrankenhaus Stadtroda während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Tagungsdokumentation der Herbsttagung des Arbeitskreises zur Erforschung der Geschichte der „Euthanasie“ und Zwangssterilisation vom 7.11. bis 9.11.1997 in Stadtroda, Stadtroda 1997; abrufbar unter https://www.ak-ns-euthanasie.de/wp-content/uploads/2019/11/Herbst_2021.pdf
Endnoten
- In „Sippschaftstafeln“ wurden die wichtigsten Lebensdaten der „Probanden“ und ihrer Familien über mehrere Generationen gelistet, außerdem Krankheiten und Todesursachen sowie äußere Merkmale wie Haarfarbe, Augenfarbe und Statur.
Das in Weimar angesiedelte Thüringische Landesamt für Rassewesen verpflichtete die thüringische Lehrerschaft, gewann aber auch zahlreiche Freiwillige aus der Bevölkerung dafür, unentgeltlich Sippschaftstafeln zu erstellen und so die Aufgabe des Landesamtes, die Thüringer Bevölkerung nach „rassenhygienischen“ Gesichtspunkten zu erfassen, zu unterstützen. - LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar 1667, Bl. 3
- Die nationalsozialistische „Rassenhygiene“, eine Verbindung aus eugenischen und rassistischen Hypothesen, die mit dem Anspruch auftrat, als Wissenschaft zu gelten, sah den Ausschluss von „fremdrassigen“ Bevölkerungsteilen aus der „deutschblütigen Volksgemeinschaft“ vor. Grundlage des Rassismus und der Rassenhygiene ist der Begriff der menschlichen Rasse, dem, wie die Jenaer Erklärung deutlich macht, keinerlei wissenschaftliche Berechtigung zukommt.
- „Ableismus“ steht für die Diskriminierung von Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen oder Behinderungen. Vgl. diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/ableismus: „Ableismus betont die Ungleichbehandlung, Grenzüberschreitungen und stereotypen Zuweisungen die Menschen wegen ihrer Behinderung erfahren. Es gibt eine normative Vorstellung davon, was Menschen leisten oder können müssen. Wer von dieser Norm abweicht, wird als behindert gekennzeichnet und als minderwertig wahrgenommen.“
- Hier spielen vor allem der soziale und wirtschaftliche Status und die sozialen Herkunftsverhältnisse eine Rolle. Als „asozial“ wurden insbesondere Angehörige der armen Bevölkerungsschicht bezeichnet. Zwar gerierten sich die Nationalsozialisten als „arbeiterfreundlich“, doch gehörte Chancengleichheit nicht zu ihren politischen Zielen, wie Joseph Goebbels schon am 23. Juni 1928 in einem Leitartikel für die Zeitschrift „Angriff“ deutlich machte: „Wir sind keine Gleichmacher und Menschheitsanbeter. Wir wollen Schichtung des Volkes, hoch und niedrig, oben und unten.“
- Hierunter fallen vor allem Personen, die zur politischen Opposition gehörten. Dafür brauchte es freilich keine Mitgliedschaft in der KPD oder SPD – das öffentliche Eintreten für Menschenrechte oder auch nur das Abhören von „Feindsendern“ während des Kriegs genügte für eine Vorladung bei der Gestapo.
- LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar 1667, Bl. 10
- Zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses siehe auch den Text zu Ida Werner
- Die beiden anderen Anstalten befanden sich in Hildburghausen und in Schleiz. In Hildburghausen gingen 1935 33 Kinder zur Schule, in Schleiz waren es 37, während in Gotha 87 Kinder beschult wurden. Vgl. LATh–HStA Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium, A 1272, Angaben über die im Land Thüringen vorhandenen Taubstummen und Blinden, Bl. 178r und 179r.
- Vgl. www.leo-bw.de/themenmodul/heimkindheiten/rahmenbedingungen/behindertenhilfe/verbot-der-gebardensprache
- LATh–HStA Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium, A 1272, Angaben über die im Land Thüringen vorhandenen Taubstummen und Blinden, Bl. 177
- Ebd., Bl. 197
- LATh–HStA Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium, A 1289 Stundenpläne der Taubstummen- und Blindenanstalten, Bl. 171
- Ebd., Bl. 172
- Ebd.
- Ebd., Bl. 174r
- Ebd., Bl. 174v
- Ebd., Bl. 175r
- Ebd., Bl. 186r, Hervorhebungen i. O.
- LATh–HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar 1667, Bl. 8
- Ebd.
- Ebd., Bl. 11v
- Ebd., Bl. 9v
- Sollte der Gedanke, dass die beiden Schwestern lediglich die Möglichkeiten menschlicher Kommunikationsfähigkeit erkundeten und der Kontakt von Einfühlungsvermögen und Phantasie zeugen könnte, den zuständigen Mitarbeiter*innen des Gesundheitsamts und des Wohlfahrtsamts überhaupt gekommen sein, so spielte er keine Rolle für ihre Bewertung der Situation: Empathiegeleiteter Einfallsreichtum ist im rassenhygienischen Diskurs nicht positiv besetzt, wenn er sich auf vermeintlich nicht Leistungsfähige bezieht.
- So der Rudolstädter Landrat in einem Schreiben an das Thüringische Innenministerium von September 1941, LATh-HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 352, Bl. 22r
- Jürgen Wollmann, Christoph Schellenberger, Karolin Schulz, Ilka Hesse: Lebenswert – Arbeitshilfe für die Jugendarbeit, Evangelische Kirche in Mitteldeutschland 2009, S. 29
- Ebd., S. 31
- Erste Beschwerden Anfang der 1920er Jahre betrafen körperliche Mißhandlungen wie Schläge, aber auch häufige Todesfälle. Nach außen hin wurde der Eindruck vermittelt, die Kinder liebevoll zu pflegen. So schrieb die Leiterin Ida Cyliax 1925 in einem Bericht an das Thüringer Innenministerium: „Das allermeiste, was unsere Kinder brauchen, ist Liebe, selbstlose, aufopfernde, die nicht das ihre sucht und sich selbst vergisst. Manches arme Geschöpf, das verstossen und verachtet von den Angehörigen, zu uns gekommen ist, hat wieder Lächeln gelernt und sich freuen.“ (Vgl. LATh–HStAW, Thüringisches Volksbildungsministerium A 1272, Angaben über die im Land Thüringen vorhandenen Taubstummen und Blinden, Bl. 40) Während des Krieges handelten die Schwestern Cyliax und Lätzsch mit den Lebensmittelmarken der Kinder, was die ohnehin hohe Sterblichkeit im Stift noch einmal auffällig ansteigen ließ. Vgl. Arbeitshilfe für die Jugendarbeit, a. a. O., S. 30.
- Arbeitshilfe für die Jugendarbeit, a. a. O., S. 32
- LATh-HStAW, Thüringisches Ministerium des Innern E 352; Bl. 18r und 19r
- Ebd., Bl. 22r
- Ebd., Bl. 26v
- Ebd., Bl. 26r
- Ebd., Bl. 27r
- Ebd., Bl_33r
- Ebd., Bl. 34r
- Kloos setzte sich nicht durch. Waldemar Döpel, Regierungsrat im Innenministerium, vermerkte in den Unterlagen, Pfarrer Phieler und eine der Schwestern hätten „Beschwerde eingelegt“. Phieler habe im Januar 1942 Innenministerium persönlich vorgesprochen und mitgeteilt, dass „nach seinen Ermittlungen Behauptung gegen Behauptung stünde“. Die Oberregierungsräte Schwalbe und Sattler, Mitarbeiter der von Karl Astel geleiteten Abteilung Wohlfahrt und Gesundheit des Innenministeriums, forderten, Dr. Köhler vom Gesundheitsamt Rudolstadt anzuhören (vgl. LATh–HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 352, Bl. 38r). Die Auseinandersetzung zog sich noch Jahre hin und involvierte neben Amtsarzt Köhler auch wieder den Rudolstädter Landrat, der sich gegen jede Einmischung verwehrte und die beiden Schwestern als „gute alte Nationalsozialistinnen“ beschrieb, die keinesfalls abberufen werden sollten. Erst im Dezember 1943 wurde der Streit beigelegt, indem Kloos aufgab (vgl. LATh–HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 352, Bl. 57v).
- LATh-HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 352, Bl. 34r
- Dr. Patrick Bernhard: Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben „Ermordung und pflegerische Vernachlässigung von Tuberkulose-Patienten in den Kliniken der gesetzlichen Rentenversicherung im Nationalsozialismus“, Potsdam/Oslo 2018, Zentrum für Zeithistorische Forschung, S. 42
- Abschlussbericht, a. a. O., S. 42
- Entzogen wurde mangelhafte Nahrung: Die Kosten für die Verpflegung lagen mit täglich 2,40 RM pro Patient*in auf der „Asozialenabteilung“ noch niedriger als in der psychiatrischen Abteilung, für die 4,10 RM eingeplant war. Zum Vergleich: Andere Tuberkulose-Heilstätten planten täglich 6,80 RM pro Patient*in ein. Vgl. Renate Renner: Das Landeskrankenhaus Stadtroda während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Tagungsdokumentation der Herbsttagung des Arbeitskreises zur Erforschung der Geschichte der „Euthanasie“ und Zwangssterilisation vom 7.11. bis 9.11.1997 in Stadtroda, Stadtroda 1997, S. 32
- Herbsttagung, a. a. O., S. 31
- Herbsttagung, a. a. O., S. 34
- Vgl. Abschlussbericht, a. a. O., S. 43
- Herbsttagung, a. a. O., S. 35
- LATh-HStA Weimar, NS-Archiv des MfS EVZ II 77 Akte 6, Bl. 5r und 6r
- Herbsttagung, a. a. O., S. 37
- Herbsttagung, a. a. O., S. 42
- Matthias Wanitschke (Hg.): Archivierter Mord. Der SED-Staat und die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Stadtroda, Quellen zur Geschichte Thüringens, Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2005, S. 161
- Bis 1945 betrieben die Diakonissen auf Kosten der Kinder einen regen Schwarzhandel mit den für die Schutzbefohlenen vorgesehenen Lebensmitteln, die Sterberate stieg ab 1943 noch einmal signifikant an (vgl. Arbeitshilfe, a. a. O., S. 30).
- Vgl. Kristin Tolk: Therapeutische Unzulänglichkeiten und nationale Überzeugungen. Wie die Jenaer Psychiater um Hans Berger in der Zwischenkriegszeit ihre Patienten behandelten, Dissertation, Jena 2018, S. 74
- Archivierter Mord, a. a. O., S. 180
- Vortrag von Dörte Ernst zu den Landesheilanstalten Stadtroda, abrufbar unter www.beredtes-schweigen.de/vortrag-ns-eugenikverbrechen-in-weimar-und-stadtroda, vgl. auch Renate Renner: Zur Geschichte der Thüringer Landeheilanstalten / des Thüringer Landeskrankenhauses Stadtroda 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Dissertation, Jena 2004, Friedrich-Schiller-Universität.
- Arbeitshilfe, a. a. O., S. 31