19.06.2024 · Steffi von dem Fange

Eine Unterbrechung der Routine: Der Weimarer Amtsarzt und die Zwangssterilisation der Ida Werner

1 Waldemar Freienstein – „einer der besten Amtsärzte“ im Land der „Rassenhygiene“


Entwurf eines Dienstleistungszeugnisses für Waldemar Freienstein, 7. Juli 1938:

„[…] Freienstein ist […] vielseitig befähigt und begabt, überaus fleißig und zeigt große Hingabe an seine Arbeitsgebiete als Amtsarzt. Er ist sehr geschickt im Umgang mit dem Publikum und wird von diesem geschätzt. Auf dem Gebiet der Erb- und Rassenpflege, dem er sich mit besonderer Hingabe widmet, zeigt er eine zielklare und folgerichtige Einstellung und Haltung. Seine Arbeit auf diesem Hauptgebiet ist von gleichbleibendem Erfolg. Freienstein ist einer der besten Amtsärzte in Thüringen. Er ist von guter Gesinnung, einwandfreiem Charakter und allenthalben kameradschaftlich.“

Karl Astel, Leiter der Geschäftsabteilung für Gesundheit und Wohlfahrt im Thüringischen Ministerium des Innern1


Mit Waldemar Freienstein kommt 1936 ein von der Idee der „Rassenhygiene“ durchdrungener Arzt nach Weimar, um hier – zunächst kommissarisch, ab 1937 hauptamtlich – die Stelle des Amtsarztes des Gesundheitsamtes der Stadt anzutreten. In seiner Empfehlung schreibt der Gauobmann des Thüringischen NSD-Ärztebundes, Dr. Rohde, 1937, Freienstein sei als „pflichtbewußter und eifriger Berufskamerad bekannt“.2 Dieser Arbeitseifer spiegelt sich in Freiensteins Karriere wider.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist er rastlos von Ort zu Ort gezogen, hat Weiterbildungskurse belegt, Urlaubsvertretungen gemacht und als Assistenzarzt in Krankenhäusern in Fulda, Paderborn, Rudolstadt gearbeitet; er war in Angermünde, Berlin und Ilmenau tätig.3 

Bevor er die Stelle als Amtsarzt bekommt und sich in Weimar niederlässt, durchläuft Freienstein eine „erbbiologische Ausbildung“ am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem – einem Institut, das die NS-Rassenlehre zu legitimieren versucht und heute für seine Verstrickung in die NS-Eugenik- und Medizinverbrechen bekannt ist.4

Freienstein ist noch nicht lange Weimarer Amtsarzt, als sich Karl Astel voll des Lobes über ihn äußert: Er sei „einer der besten Amtsärzte in Thüringen“, der sich „mit besonderer Hingabe“ und Erfolg der „Erb- und Rassenpflege“ widme.

Hier äußert sich nicht irgendeiner: Karl Astel, der dank seiner alten Freikorpskontakte im Sommer 1933 nach Weimar geholt und als Direktor des neu eingerichteten „Thüringischen Landesamtes für Rassewesen“ eingesetzt wurde, ist inzwischen zusätzlich Leiter der Abteilung für Gesundheits- und Wohlfahrtswesen im Thüringischen Innenministerium, aber auch Inhaber eines Lehrstuhls zur „Menschlichen Erbforschung und Rassenpolitik“ an der Universität Jena und Leiter des Rassenpolitischen Gauamts der NSDAP. Astels Bestreben, „aus Thüringen das führende Land der Rassehygiene in Deutschland und in der Welt zu machen“,5 wird seiner Ansicht nach offenbar auf hervorragende Weise vom Amtsarzt Freienstein umgesetzt.

2 Das Wirken des Weimarer Amtsarztes: Zwangssterilisationen, Zwangseinweisungen und Unterstützung des Krankenmordes

Die Akten bestätigen Freiensteins Tatendrang in vielerlei Hinsicht: Bis 1945 sammelt er Posten, Ämter, Verantwortlichkeiten6 und damit Macht; und er arbeitet unermüdlich an der vermeintlichen „Gesundung des Volkskörpers“ – wie er es wohl nennen würde.
Konkret bedeutet das: Er verfolgt mit aller behördlichen Macht, die ihm zur Verfügung steht – notfalls mittels polizeilicher Gewaltanwendung –, jene in Weimar lebenden Menschen, die er als nicht wert ansieht, zur nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ zu gehören.

Als der „Volksgemeinschaft“ nicht würdig gilt ihm Kurt Apel, der im Sommer 1938 in eine akute psychische Krise gerät und wenige Wochen später als „Schizophrener“ diagnostiziert, zwangssterilisiert und in die Heilanstalt Blankenhain zwangseingewiesen wird.7

Als „minderwertig“ gilt ihm Klara Schwägler, die im Weimarer Rotlichtviertel als Prostituierte arbeitet, ebenso wie Renate Schoder, ein gehörloses Mädchen, das seinem Umfeld zu viel Mühe bereitet, um das nötige Maß an Hinwendung und Bildung zu erhalten, und das schließlich als „schwachsinnig“ und „bildungsunfähig“ in ein mörderisches Kinderheim abgeschoben wird. 

Die kleine Renate Sommer (Name geändert), ein ruhiges, oft versonnen vor sich hinschauendes Kind, merkt Freienstein aufgrund seiner geistigen Behinderung für das Jahr 1954 – dann wird sie 14 Jahre alt – zur Zwangssterilisation vor.

Dem von den Anhängern der NS-Rassenhygiene wie Freienstein imaginierten Idealbild des Volksgenossen bzw. der Volksgenossin entsprechen auch Klaus Hänel und Margarete Engelbrecht (Namen geändert) nicht. Beide sind an Tuberkulose erkrankt und in Verantwortung Freiensteins – als Leiter der Gesundheitspolizei – mittels Polizeiverfügung in die Abteilung für „asoziale Tuberkulosekranke“ der Stadtrodaer Landesheilanstalten zwangseingewiesen. Dort warten Dunkelhaft, Hunger, Erbrechen verursachende Apomorphinspritzen und Mangelernährung auf sie.
Laut einem Schreiben aus der Abteilung für Wohlfahrt und Gesundheit des Thüringer Ministeriums für Inneres an die Landesheilanstalten Stadtroda wird schon bei der Planung dieser Abteilung im August 1934 davon ausgegangen, dass eine „ärztliche Versorgung dieser Fälle nur in geringem Umfange in Betracht kommen“ wird.9 Anfang 1936 heißt es in einem Schreiben des Thüringischen Ministerium des Innern: „Zwecken der Heilung dient diese Einrichtung nicht.“10
Ein Bittbrief des Vaters von Margarete Engelbrecht an den Amtsarzt bestätigt 1941 die Umsetzung dieser beabsichtigten Unterversorgung: Seine Tochter sei „in einem trostlosen Zustand“ und „befindet sich hinter verschlossenen Türen und vergitterten Fenstern. Die Ernährung ist auch sehr mangelhaft. Eine Heilbehandlung findet nicht statt. Der Gesundheitszustand hat sich verschlechtert.“11
Die Bitten der Anwälte und Angehörigen, die Polizeiverfügung aufzuheben, damit die Kranken in andere Heilanstalten – die ihrem ärztlichen Auftrag noch eher nachkommen – entlassen werden können, lehnt Freienstein aus „erzieherischen“ Gründen ab. 

3 Behördenübergreifende Verfolgung "asozialer" Familien

Solche Methoden der „Disziplinierung“ von Menschen finden im nationalsozialistischen Gesellschaftssystem nicht nur im gesundheitlichen Bereich Anwendung. Die Repressionsmittel verschränken sich, wie man bei der Nachverfolgung einzelner Namen in den Akten des Weimarer Gesundheitsamtes und des Wohlfahrtsamtes erkennen kann: So vermerkt Freienstein den Namen von Albert Eilers (Name geändert), der sich in Briefen von der Kriegsfront energisch für die Entlassung seiner Frau Margarete einsetzt, kurz darauf in einer Liste von Weimarer „asozialen“ Familien. 

Als „asozial“ kann stigmatisiert werden, wer keinen festen Wohnsitz und/oder kein regelmäßiges Einkommen hat, wer eine ansteckende Krankheit hat und keine Möglichkeit, sich zu Hause in Quarantäne zu begeben, wer süchtig ist (v. a. Alkoholkranke), wer der Prostitution nachgeht, wer mehrfach straffällig geworden ist z. B. durch kleinere Diebstähle, wer sich der Arbeitsmoral entzieht oder einfach Behörden und Arbeitgebern gegenüber zu widerspenstig ist. Besonders junge Frauen können rasch als „asozial“ abgestempelt werden, wenn sie selbstbewusst auftreten und sich nicht dem NS-Frauenbild anpassen.

Die gelisteten Weimarer Familien will die Stadtverwaltung „nach dem Krieg“ in einer besonderen „Wohnanlage“ außerhalb der Stadt unterbringen. Das Vorhaben, das Freiensteins volle Unterstützung erhält12, zielt ebenfalls auf die „Erziehung“ dieser Menschen ab.

Wie diese Erziehung aussehen kann, ist am Beispiel der „Wohnungsfürsorgeanstalt“ Hashude in Bremen zu sehen: Die geschlossene Anlage wird 1936 nach dem Vorbild des Benthamschen Panoptikums errichtet. In die 84 Einfamilienhäuser niedrigsten Standards werden ausgewählte Familien zwangseingewiesen und in unterschiedlichem Maße überwacht. Der Zu- und Ausgang ist für die Bewohnerschaft wie auch Besucher*innen reglementiert, die Häuser selbst können jederzeit von Aufsehern betreten und kontrolliert werden. Ein Zeitplan sieht u. a. vor, dass ab 6 Uhr morgens die Haustüren offenzustehen und bis 11 Uhr die Wohnungen aufgeräumt zu sein haben, um 21 Uhr bzw. im Sommer 22 Uhr tritt die Sperrstunde ein. Ein Kontakt unter Nachbar*innen wird baulich erschwert, Ziel ist die Separierung der Familien. Bei Verstößen gegen die Regeln oder renitentem Verhalten können die Bewohner*innen mit Sonderarbeit, tagelangem Einsperren, Aufenthalt in einer Dunkelzelle, Nahrungskürzung oder -entzug bestraft werden. Die Steigerung der Strafen stellt die Einweisung in das Arbeitslager im Teufelsmoor dar.13

In Weimar hat man für die „Zeit nach dem Sieg“ offenbar ähnliches vor. Das Schreiben der Stadtverwaltung an den Amtsarzt Freienstein erläutert, dass für den Fall des Scheiterns der „Erziehung“ die Einweisung „des Ehemannes entweder in ein Konzentrationslager oder Arbeitshaus“ und der Frau und der Kinder „in entsprechende Erziehungsanstalten“ vorgesehen ist, „damit praktisch eine solche asoziale Familie aufgelöst wird“.14 

Der Amtsarzt legt der Verwaltung daraufhin seine eigene „Kandidatenliste“ vor.

Doch wartet Freienstein nicht bis zum Kriegsende, um Albert Eilers, der sich für seine in Stadtroda zwangsuntergebrachte Frau einsetzt, zu diskreditieren. Dessen Wehrmachtsvorgesetztem schreibt er, dass er „einer erbbiologisch minderwertigen Familie entstammt. Eine Schwester […] ist taubstumm. Die andere Schwester […] ist wegen Abtreibung bestraft worden; sie erwartet ihr 5. Kind, obwohl sie seit Jahren Witwe ist. Die beiden Schwestern haben keinen guten Leumund“.15

Heilanstalten, Erziehungsheime, „Asozialenkolonien“, Arbeitshäuser, Konzentrationslager sind in den 1930er und 1940er Jahren Orte der Separation und Isolation, Orte der Unterwerfung, Abschätzung und maximalen Ausnutzung der Arbeitskraft vor dem beabsichtigten oder billigend in Kauf genommenen Tod. Zum Netz der Täterorte gehören aber ebenso Gesundheitsämter, Wohlfahrtsämter, Jugendämter und Gerichte. All diese Orte verweisen aufeinander, gehen ineinander über, ergänzen sich. Der Terror, den sie ausüben, spiegelt eine Geisteshaltung, die den Kampf als Zweck und Grundprinzip der Beziehung zwischen allem Lebendigen definiert und im Grunde lebensfeindlich ist.

4 Eine Frau fällt aus der Rolle

Ob aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung oder ihrer sozialen Unangepasstheit verfolgt: Viele der Leidtragenden haben gemeinsam, dass sie sich in einer schwachen Machtposition befinden. Die Kinder wehren sich nicht – sie wissen nicht, was mit ihnen geschieht, und vertrauen den Erwachsenen. Die erwachsenen Betroffenen sind oft aufgrund ihrer Krankheit oder ihrer sozialen Situation – Armut, prekäre Arbeitssituationen, beengte und unhygienische Wohnverhältnisse – zu überlastet oder erschöpft, um der Beharrlichkeit des Amtsarztes etwas entgegensetzen zu können. Einige wehren sich und nehmen sich einen Anwalt. Angehörige wenden sich an Autoritäten wie die Partei oder den „Stellvertreter des Führers“, um zu protestieren, doch haben sie kaum eine Chance: Die „Gesundheitspolitik“ des übermächtigen Staates besteht gerade in der Verfolgung und „Ausmerze“ jeglicher Auffälligkeit, Abweichung, Unangepasstheit zur Schaffung einer konformen, gleichgeschalteten und erbbiologisch „reinen“ „Volksgemeinschaft“.

Waldemar Freienstein, ein Repräsentant dieser „Gesundheitspolitik“, ist es also gewohnt, Erfolg zu haben. Seinen „Anträgen auf Unfruchtbarmachung“ folgen wenige Wochen bis Monate später die Ärztlichen Berichte zu den entsprechenden Zwangssterilisationen aus den Krankenhäusern der Umgebung. 

Doch Ida Werner (Name geändert16), eine einundzwanzigjährige Stenotypistin aus Weimar, wehrt sich so vehement, ausdauernd und geschickt gegen die Zwangssterilisation, dass es ihr zumindest für kurze Zeit gelingt, die Rollen umzukehren: Ende 1938 schreibt Freienstein in einer Stellungnahme, er „handle in Notwehr“ und sehe sein „Ansehen als Erbarzt“ in Gefahr.17

Seine „Notwehr“ besteht in einem wütenden Ausbruch, in dem er diffamiert, denunziert, die junge Frau herabwürdigt und von „krimineller Sabotage am nationalsozialistischen Ideengut“18 spricht, wo es um die Geburt eines Kindes geht. Seine Verleumdung betrifft nicht nur Ida Werner und ihre Familie, sondern auch eine der deutschen medizinischen Koryphäen des 20. Jahrhunderts, Ferdinand Sauerbruch, Leiter der Chirurgie an der Berliner Charité. 

Wie kann sein Antrag auf Unfruchtbarmachung einer jungen Frau ohne einflussreiche Kontakte solche Folgen zeitigen?

5 Am Anfang war die Denunziation

Es beginnt mit einer Denunziation aus dem privaten Umfeld Ida Werners. Ihr Schwiegervater in spe, Ernst K. aus Mühlhausen, wendet sich Anfang März 1937 brieflich an das Landesamt für Rassewesen in Weimar: Er „bittet höflich um Auskunft, ob ein Mädel, die [sic] mit Knochenmissbildungen in der Art, ähnlich wie in beiliegender Abschrift beschrieben, erbgesund ist und Bedenken gegen einen erbgesunden Nachwuchs bestehen, oder bei einem Heiratsaufgebot Schwierigkeiten entstehen“.19 Nach diesem Fingerzeig auf Ida Werner kommt er auf seinen Sohn zu sprechen, der Ingenieur und „vollständig erbgesund“ sei und dem SA-Nachrichten-Sturm angehört habe. Dem Schreiben beigefügt ist die Abschrift eines Lexikonartikels über Knochengeschwulste bzw. „Exostosen“, die sich in X-Bein-Bildung und Krümmungen von Armen und Beinen zeigen können.

Dr. Werner Neuert, Leiter der erbbiologischen Abteilung des Landesamtes für Rassewesen und ein Vertrauter Astels, reicht das Schreiben an den Amtsarzt Freienstein weiter und bittet um eine Untersuchung Ida Werners auf „Ehetauglichkeit“. Ihr Verlobter Robert K. (Name geändert) solle eine „rassehygienische Beratung“ erhalten. Mitte März wird Ida Werner zur Untersuchung ins Gesundheitsamt bestellt und erfährt von „Zweifeln“ an ihrer „Ehetauglichkeit“. 

Freienstein – der in einem anderen Fall mit den Worten „Ich möchte nicht die Verantwortung dafür tragen, daß der [Probandin] die Fortpflanzungswürdigkeit bescheinigt wird“20 klarstellt, dass er lieber einmal zu viel als einmal zu wenig sterilisieren lässt – beginnt zu ermitteln und bittet den Oberarzt des Städtischen Krankenhauses, der sie 1930 und 31 aufgrund ihrer Knochenverformungen operiert hatte, um den OP-Bericht. Doch Ida Werner wartet nicht untätig auf das Ergebnis der amtsärztlichen Ermittlungen, sondern lässt sich vom Gynäkologen Dr. Graebke bestätigen, dass sie „ehetauglich und fortpflanzungsfähig“ sei.
Zugleich und offenbar mit der Zuversicht, diese Angelegenheit rasch klären zu können, beantragt sie beim Weimarer Gesundheitsamt – also bei Freienstein – die Ausstellung eines „Ehetauglichkeitszeugnisses“, da der Hochzeitstermin zum Jahresende angesetzt ist. In ihrem Schreiben gibt sie ihre Ansicht wieder und widerspricht Freienstein – ein Vorgehen, das auch heute bei Ärzt*innen nicht gerade beliebt ist und 1937 sicherlich auf noch weniger Offenheit trifft: 

„Ich habe zwar als Kind die englische Krankheit gehabt, die aber unmöglich als eine Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes angesehen werden kann. Als eine Erbkrankheit im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen ist m. Erachtens doch nur eine schwere erbliche körperliche Mißbildung anzusehen, an einer solchen leide ich aber nicht und hat meines Wissens keiner meiner Vorfahren gelitten. Körperliche Mißbildung leichter Natur fallen aber keineswegs unter die Bestimmungen des Erbgesundheitsgesetzes.“21

Die „englische Krankheit“ bzw. Rachitis ist eine Knochenerkrankung, die durch einen ausgeprägten Vitamin-D-Mangel im jungen Alter verursacht wird und während des Ersten Weltkriegs aufgrund von Smog und Mangelernährung häufig aufgetreten ist. Die „körperlichen Mißbildungen“, von denen hier die Rede ist, sind X-Beine und gekrümmte Gliedmaßen. 

Ida Werner macht sich trotz ihrer Zeilen keine Illusionen über Freiensteins Haltung in dieser Angelegenheit und bittet um die Adresse eines Arztes, der zur Abgabe einer zweiten Meinung autorisiert ist. Eine Antwort hierauf erhält sie nicht.
An der Stelle im Schreiben, an der Ida Werner Dr. Graebkes Bescheinigung ihrer Ehetauglichkeit erwähnt, kommentiert Freienstein mit rotem Stift am Rand: „nein!“ 

6 Der eugenische Werkzeugkoffer der Gesundheitsämter

Die Prüfungen auf „Ehetauglichkeit“ mit der Möglichkeit, einem Paar die Eheschließung zu verweigern, gehören in den neu ausgestatteten Werkzeugkoffer der Amtsärzte, die seit 1933 der „Rassenhygiene“ verpflichtet sind. Neben diesen Ehetauglichkeitsprüfungen (z. B. infolge von Zweifeln der Standesbeamten an der Gesundheit der Verlobten) werden in den Gesundheitsämtern erbbiologische Gutachten ausgestellt, mit denen man Ehestandsdarlehen beantragen darf. Die damit verbundenen 500 bis tausend Reichsmark können „erbgesunde“ verheiratete Männer erhalten, falls ihre Frauen ihre Arbeit aufgeben und ihre Rolle ausschließlich am Herd und im Heim sehen. Ähnlich kann ein Kinderdarlehen und Ausbildungsdarlehen erhalten, wer die erbbiologischen, sozialen und wirtschaftlichen Forderungen erfüllt. 

Zweck dieser „positiven Eugenik“ ist, dass „rassisch Hochwertige“ zueinanderfinden, kinderreiche Familien gründen und die von allen Abweichungen „bereinigte“ nationalsozialistische Volksgemeinschaft schaffen.22 

Die Mittel der „negativen Eugenik“ sehen freilich keine finanziellen Erleichterungen oder Unterstützung vor, sondern Restriktionen, Übergriffe auf die körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit bis hin zur Tötung von Personen, die von den Machthabern als „Ballast“23 angesehen werden. 

Für die Einteilung der Bevölkerung in die Kategorien „wertvoll“ und „minderwertig“ spielen die Gesundheitsämter eine entscheidende Rolle – ihre bürokratische Zuarbeit zu den Eugenikverbrechen läuft unter der Bezeichnung „Erb- und Rassenpflege“. Bis 1938 werden in 201 von 745 Gesundheitsämtern sogar spezielle Abteilungen für diesen Arbeitsbereich eingerichtet. 

Das strenge Urteil über die körperliche und psychische Verfassung der Weimarer Bewohner*innen wird ab 1937 in der zweiten Etage eines Eckgebäudes am Burgplatz 2 gefällt. Im Frühling 1937 zeigt der Blick aus dem Fenster des Untersuchungsraumes eine Stadt im Dunst der Kohleöfen: hohe, noch kahle Linden, ein Stück Rasenfläche mit einem Kinderspielplatz, die Kopfsteinpflasterstraße und das alte Gemäuer des Weimarer Schlosses. Ende April legt Ida Werner hier dem Amtsarzt eine – auf sein Verlangen hin – von ihr selbst ausgefüllte Sippschaftstafel24 vor. Sie kommt vom Weimarer Krankenhaus, wo sie für Freienstein neue Röntgenbilder anfertigen lassen musste. Der Amtsarzt diagnostiziert nach Sichtung dieser Unterlagen multiple kartilaginäre Exostosen „mit schweren Deformierungen der Arme, Beine, […] Hüftgelenke und des Beckens“25. Er weist Dr. Graebke brieflich auf dessen Fehler hin und bescheinigt der jungen Frau die Verweigerung des Ehetauglichkeitszeugnisses.26 Damit ist ihr aus erbbiologischen Gründen untersagt, ihren Verlobten Robert K. zu heiraten. 

Doch nicht nur die Heirat, auch Kinder sollen ihr verwehrt bleiben: Am 4. Mai 1937 stellt Freienstein beim Erbgesundheitsgericht Jena einen Antrag auf Unfruchtbarmachung der Ida Werner. Kurz darauf schreibt er ihr: 

„Ich bedauere sehr, dass Sie nicht selbst den Antrag auf U. beim Erbgesundheitsgericht gestellt haben. […] Ich möchte Sie bitten, auf Nachkommenschaft zu verzichten, auch wenn mein Antrag beim Erbgesundheitsgericht nicht durchgehen sollte. […] Meine Ansicht bedeutet für Sie sicher einen grossen persönlichen Verlust und ein Opfer. Sie müssen dieses aber der Volksgemeinschaft bringen, die Ihnen dies auch dankt.“27

Es wird sich zeigen, dass die versprochene Dankbarkeit sich in ätzende Herabwürdigung verkehrt, als sie dieser „Bitte“ nicht nachkommt.

7 Das Sterilisationsgesetz und die Überlastung der Gerichte

Seit dem 1. Januar 1934 sind Sterilisationen, die auch gegen den Willen der Betroffenen und unter polizeilichem Zwang durchgeführt werden, legal. Das entsprechende „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde schon im Sommer 1933 verabschiedet – ein Zeichen für die Priorität, die die neuen Machthaber dem Thema einräumen, aber auch für die jahrelange Vorarbeit auf diesem Gebiet28 – und tritt zum Jahreswechsel in Kraft. 

Das Gesetz verpflichtet alle approbierten Ärzte, Zahnärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Heilpraktiker und Masseure unter Aufhebung der Schweigepflicht, aber auch alle Staatsbeamten wie Bürgermeister, Lehrer und Schulleiter, Angestellte der Wohlfahrtsämter, Fürsorgeheime, Polizei usw. zur Anzeige von „Erbkranken“ bei den teils neu eingerichteten staatlichen Gesundheitsämtern.29 
Nach Eingang der Anzeige untersuchen die Amtsärzte die Gemeldeten und „ermitteln“ – d. h. sie erkundigen sich bei der zuständigen Gemeindebehörde, bei Schulen, Wohlfahrts-, Jugend- und Fürsorgeämtern u. a. über sie. Auch Zeugen können sie vernehmen und Fürsorgerinnen zum Hausbesuch schicken, um die Wohn- und Familienverhältnisse zu prüfen. 

Mit einem ärztlichen Gutachten versehen stellen die Amtsärzte einen Antrag auf Unfruchtbarmachung, insofern sie eine der im Gesetz genannten „Krankheiten“ diagnostizieren können: 

 „angeborenen Schwachsinn“,
„Schizophrenie“,
„zirkuläres (manisch-depressives) Irresein“,
„erbliche Fallsucht“,
„erblichen Veitstanz (Huntingtonsche Chorea)“,
„erbliche Blindheit“,
„erbliche Taubheit“ und
„schwere erbliche körperliche Missbildung“,
außerdem „schwerer Alkoholismus“. 

Die Gutachten geben Auskunft über „die Sippe“, also soziale und gesundheitliche Informationen zu Familienangehörigen (die gegebenenfalls ebenfalls zu sterilisieren sind), zum sozialen Werdegang, zur bisherigen Krankengeschichte der Betroffenen und zum körperlichen und psychischen Befund.30 

Neben den Amtsärzten können die Leiter von Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten und von Strafanstalten sowie die Vormünder von Minderjährigen Anträge stellen. Auch die betroffenen Personen selbst, z. B. Insassen von Heil- und Pflegeanstalten, werden dazu gedrängt. 1933 und 1934 erfolgen vergleichsweise viele solche Anträge, einige werden in der Hoffnung gestellt, danach aus den Anstalten entlassen zu werden. Betroffenen wird die Sterilisation als „eine Tat der Nächstenliebe und Vorsorge für kommende Geschlechter“31 und als ein zwar schweres, doch notwendiges Opfer für die Volksgemeinschaft vorgestellt. Gerade junge Frauen, die in der staatlichen Fürsorgeerziehung sind, werden entsprechend beeinflusst.

Die Anträge gehen bei den „Erbgesundheitsgerichten“ – d. h. Sondergerichten für „rassenhygienische“ Fragen – ein und werden dort verhandelt. In Thüringen werden 19 solche Gerichte an die Amtsgerichte angegliedert: In den größeren Städten wie Gera, Erfurt und Jena, aber auch in Vacha, Hildburghausen, Schleiz, Altenburg, Apolda, Meiningen, Gotha, Sonneberg und Eisenach wird nun darüber entschieden, wer Kinder in die Welt setzen darf und wer nicht. Als höhere Instanz dient das Erbgesundheitsobergericht in Jena. Die Beschlüsse fällen je ein Richter, ein beamteter Arzt und ein nichtbeamteter Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre „besonders vertraut“32 ist. 

Für diese Ärzte und Richter finden an der „Staatsschule für Führertum und Politik“ in Egendorf bei Blankenhain und in Bad Berka Schulungen in erbbiologischen und rassenhygienischen Themen statt, organisiert vom Landesamt für Rassewesen. 
Im August 1933 berichten alle thüringischen Zeitungen feierlich, dass im ersten „Rassehygienischen Ärzte-Schulungskurs“ in Egendorf die ersten 84 „Ärzte, die in vorderster Front für die deutsche Volksgesundheit kämpfen“, nun das „wichtigste Rüstzeug für die zur Rettung der Rasse notwendigen Maßnahmen“ erhalten haben.33 

Der Artikel ist Teil einer reichsweiten medialen Kampagne zum Erlass des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Die Presse beschwört mit „geradezu endzeitlichem Pathos“, wie Gisela Bock in ihrem Standardwerk Zwangssterilisation im Nationalsozialismus schreibt,34 ein Bedrohungsszenario herauf, in dem das Überleben einer erbbiologischen Elite durch eine „minderwertige“, aber sehr fruchtbare Mehrheit der Bevölkerung gefährdet sei.35 Die im August 1933 in den Thüringer Zeitungen abgedruckten Worte verhehlen nicht, wohin die eugenische Politik führt: Aus einem vermeintlichen „Kampf zur Rettung der Rasse“ wird rasch ein „Kampf“ gegen „kranke und fremde Erbanlagen“, die sich in einzelnen Frauen, Männern, Kindern zeigen, und damit ein Kampf gegen deren körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Für viele wird die eugenische Gesundheitspolitik sogar rasch lebensgefährlich. Konsequenterweise kündigt die Weimarische Zeitung an: „Die zahlreichen Kursteilnehmer aus allen Kreisen Thüringens überziehen nun als die erste Eroberungswelle des rassehygienischen Sturmangriffs das Land“. Der Artikel endet mit dem Ausruf: „Thüringen an die Front!“

8 Das Landesamt für Rassewesen und die exklusive „Volksgemeinschaft“

Die erste „Eroberungswelle“ in Thüringen beraubt im Jahr 1934 1 234 Menschen ihrer Fortpflanzungsfähigkeit – das sind 0,12 Prozent der Thüringer Bevölkerung.36 1937 berichtet Karl Astel, dass in Thüringen bis Weihnachten 1936 die acht Jahrgänge der 17- bis 24-Jährigen „durchsterilisiert worden“ seien – einer von hundert Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde unfruchtbar gemacht.37 

Systematisch werden in diesen ersten Jahren reichsweit „Fälle“ abgearbeitet, die den Wohlfahrts-, Fürsorge- und Gesundheitsbehörden schon bekannt sind: vor allem in Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten untergebrachte Patient*innen, Langzeitarbeitslose, stadtbekannte Trinker, Gehörlose und Blinde und sozial auffällige, auf Unterstützung angewiesene Personen.

Gisela Bock schreibt über den Anzeigeneifer der Anfangszeit: 

„Viele dieser Behörden reichten pauschale, oft jahrgangsweise Sammelanzeigen ein, einzelne Wohlfahrtsämter zeigten ‘reihenweise’ oder für ‘eine ganze Straße’ an, oder sie überführten ihre Schützlinge, vor allem weibliche, in Heil- und Pflegeanstalten; im Sterilisationseifer der ‘Heißsporne, die glaubten, man müsse das Gesetz innerhalb von 5 Minuten am ganzen Volk vollstrecken’, wurden 60-80jährige, schon Sterilisierte oder bereits Verstorbene angezeigt.“38 

All jene Anzeigen, die nach der Überprüfung im Gesundheitsamt in Anträge auf Unfruchtbarmachung münden, führen in Weimar zu einer Verhandlung im Amtsgerichtsgebäude in der heutigen Carl-von-Ossietzky-Straße. Über das Arbeitspensum am Weimarer Erbgesundheitsgericht berichtet Dr. Grobe, Amtsarzt des Landkreises Weimar und ärztlicher Beisitzer am Gericht, im Februar 1936, dass das Gericht im Sommer 1935 zeitweise überlastet war „durch eine hohe Anzahl von Anträgen. In dieser Zeit ist es vorgekommen, dass Sitzungen von 2 1/2 bis 10 Uhr abends ununterbrochen andauerten“.39

Die hohe Anzahl von Anzeigen ist erwünscht. Die Daten, die daraufhin von den Amtsärzten erhoben werden, bilden den Grundstock einer reichsweiten „erbbiologischen Bestandsaufnahme des deutschen Volkes“,40 die in Thüringen vom Landesamt für Rassewesen durchgeführt wird. 

Diese Bestandsaufnahme nach rassenhygienischen Gesichtspunkten führt in Weimar zu regelmäßigen statischen Prüfungen in der Marienstraße 15. Der Leiter des Landesamtes für Rassewesen schätzt 1943, dass die Decke der Etage mit dem Karteiraum 492 Zentner tragen muss. Hier lagern 1937 die Karteikarten zu etwa einem Fünftel der Thüringer Bevölkerung. 

Um dem Ziel der vollständigen erbbiologischen Erfassung der Thüringer näher zu kommen, weist Karl Astel am 12. Juli 1937 alle Thüringer Wohlfahrts- und Jugendämter darauf hin, „erblich untüchtige“ Personen dem Gesundheitsamt zu melden, das anschließend dem Landesamt Bericht erstattet. Seine Aufzählung „verdächtiger“ Personengruppen macht deutlich, wie exklusiv der Kreis der „rassisch hochwertigen Volksgenossen“ definiert wurde: 

„Um die das deutsche Volk schwer belastenden erblich Untüchtigen in möglichst erschöpfender Weise erfassen und rassehygienisch betreuen zu können, ist es erforderlich, daß auch die Wohlfahrts-Jugend-Ämter ihre Kraft in den Dienst der Sache stellen. Die Wohlfahrtsämter–Jugendämter sind daher in hervorragendem Maße berufen, an der Feststellung der Lebenstüchtigkeit der einzelnen Volksgenossen im Sinne einer erbbiologischen Bestandsaufnahme mitzuarbeiten. Ich ersuche die Wohlfahrtsämter–Jugendämter– dafür zu sorgen, daß sämtliche in ihrem Geschäftsbereich in Frage kommenden Akten daraufhin geprüft werden, ob sich aus ihnen etwas darüber ergibt, daß die von den Ämtern Betreuten und deren Angehörige die Volksgemeinschaft irgendwie belasten, erbkrank, schwachsinnig oder sonst schwerer abwegig sind. Zu diesen Personen gehören insbesondere: 

1. Alle Gemeingefährlichen, Kriminellen und charakterlich schwerer abwegigen Naturen, wie z.B. Landstreicher, Tagediebe, Arbeitsscheue, Säufer, Verlumpte, Verwahrloste, Liederliche, sexuell Haltlose, chronische Schuldenmacher usw. Nichtsnutze aller Art, Sonderlinge, auffällige Sektierer und Querulanten.

2. Alle Geisteskranken, Fallsüchtigen und Rauschsüchtigen, vor allem Trinker, alle Blinden und Fastblinden –mit Ausnahme der erwiesenermaßen Kriegsblinden–, Taubstummen, Tauben, Bettnässer; ferner alle mit wahrnehmbaren angeborenen körperlichen Mängeln oder Mißbildungen, wie hochgradige Rückgratverkrümmung, Klumpfuß, Hasenscharte, Gaumenspalte (Wolfsrachen) auch nach erfolgter Wiederherstellungsoperation, Turmschädel, angeborenem Fehlen eines Körperteiles (Hand-Fußverstümmelungen) usw. Behafteten, sowie sonst irgendwie Krüppelhaften, deren Leiden nicht auf einen sicher festgestellten schweren Unfall zurückzuführen ist. 

3. Schwachsinnige aller Grade. Zu diesen zählen in der Regel: alle Hilfsschüler und ehemaligen Hilfsschüler, ferner alle geistig und volksgemeinschaftlich (sozial) nicht Vollwertigen, z.B. Fürsorgezöglinge und diejenigen, die im Volksschulunterricht nicht ausreichend mitkamen, die ohne triftigen äußeren Grund mehrmals Sitzengebliebenen, weiter alle diejenigen, die ihre eigenen Angelegenheiten infolge einer entsprechenden Veranlagung nicht ausreichend besorgen können, so daß sie selbst, ihre Nachkommen und ihre Sachen verwahrlosen; Berufsunfähigen, Analphabeten usw. 

Alle diese Personen sind dem zuständigen Gesundheitsamt monatlich zu melden. […] Es kommt dabei nicht darauf an, festzustellen, ob erbliche Krankheiten tatsächlich vorliegen oder nicht. Diese Feststellung erfolgt von den zuständigen Stellen. Es sollen vielmehr nur alle auffälligen oder die Volksgemeinschaft belastenden oder gefährdenden Personen dem Gesundheitsamt gemeldet werden, damit sie einer für sie und das Volk notwendigen Sichtung unterzogen werden. […]“41

Gisela Bock schätzt, dass rund drei Prozent der damaligen deutschen Bevölkerung zwischen 16 und 50 Jahren – fast eine Million Menschen – zur Sterilisation angezeigt wurden.42 Von ihnen wurden bis 1945 ca. 400 000 Personen zwangssterilisiert.43 Rund der Hälfte von ihnen wurde „angeborener Schwachsinn“ unterstellt – eine bei den Antragstellern beliebte Diagnose, mittels derer auch jene erfasst werden konnten, die nicht der sozialen Norm entsprachen. In den Begründungen solcher Beschlüsse ist häufig die Rede von „mangelnder Lebensbewährung“ oder „Unfähigkeit zu sozialer Einordnung“,44 die als eindeutige Symptome einer Erbkrankheit dargestellt werden – insbesondere dann, wenn in der Verwandtschaft weitere solche „Fälle“ zu finden sind.

Ab 1935 mehrten sich die Proteste in der Bevölkerung gegen die Sterilisationen, es wurden mehr und mehr – meist erfolglose – Beschwerden bei Erbgesundheitsobergerichten eingereicht.45 Die Zahl der Sterilisationen sank gegen Ende der dreißiger Jahre,46 während der Staat dazu überging, radikalere Methoden der bevölkerungspolitischen „Auslese“ anzuwenden: die Tötung von psychisch kranken oder behinderten Menschen, angefangen bei schwerstbehinderten Neugeborenen 1939.

9 Der erste Beschluss auf Unfruchtbarmachung der Ida Werner

Die erste Welle der Zwangssterilisationen ebbt also ab, als am 7. Juli 1937 um 18:30 Uhr in Zimmer 106 im Erdgeschoß des Weimarer Amtsgerichtsgebäudes der Amtsgerichtsrat Schneider, Dr. Obst und Dr. Rudeloff über Freiensteins Antrag beraten. Der Beschluss auf Unfruchtbarmachung der Ida Werner wird am 22. Juli ausgestellt und ihr und dem Antragsteller Freienstein zugeschickt. Die Begründung des Beschlusses folgt dem Gutachten Freiensteins und stützt sich insbesondere auf seinen Röntgenbericht, der die Anzahl und Lage der Knochenwucherungen beschreibt und die Vermutung äußert, ein „normal grosser Kindskopf“ könne „durch das Becken“ aufgrund von dessen Form „nicht hindurchtreten“.47 Die diagnostizierten multiplen kartilaginären Exostosen werden im Standardwerk zur Erläuterung des GzVeN von Gütt, Rüdin und Ruttke als Krankheit beschrieben, für deren Erblichkeit im Sterilisationsprozess nicht argumentiert werden muss. Die Diagnose, dass es sich bei Knochenverformungen um solcherart Exostosen handelt, wird, insofern es sich um eine „schwere Form“ handelt, als hinreichender Grund angesehen für eine Zwangssterilisation. 

10 Gegenwehr

Beides – die Diagnose wie auch die Schwere der Krankheit – wird in den folgenden gut anderthalb Jahren beharrlich von Ida Werner in Zweifel gestellt. 

Sie traut sich, über das nichtöffentliche Verfahren zu sprechen und sich Unterstützung zu suchen.

Sie hält an der Diagnose Rachitis fest und legt Atteste oder Gutachten von fünf Ärzten vor, die ihr bestätigen, dass sie „ehetauglich“ sei bzw. keine Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes habe. Diesen Bescheinigungen stehen zwei Gutachten gegenüber, eines davon von Waldemar Freienstein. Ida Werners Bemühen um immer weitere Gutachten zeigt, dass sie von Freienstein keine objektive Beurteilung ihres Gesundheitszustandes erwartet.

Die junge Frau argumentiert damit, verschiedene Sportarten – Rad- und Skifahren, Segeln, Turnen, Laufen und Schwimmen – zu treiben, sich körperlich nicht eingeschränkt zu fühlen, für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können – kurz: ein vollwertiges Mitglied der „Volksgemeinschaft“ zu sein und diese finanziell nicht zu belasten. 

Damit reagiert sie auch auf die Propaganda des NS-Staats, der für seine „rassenhygienischen Maßnahmen“ vor allem mit wirtschaftlichen Argumenten wirbt: In Wanderausstellungen, auf Plakaten und Anzeigen sind „erbgesunde“ und „erbkranke“ Familien in deutlicher Kontrastierung dargestellt und es wird vorgerechnet, welche Mühe und Kosten die Gesellschaft mit „den Erbkranken“ habe – und wie viele Einfamilienhäuser für den Preis der Errichtung einer Pflegeanstalt gebaut werden könnten.48 

Ida Werner bringt ihr Selbstbild und das Bild von in der NS-Propaganda vorgeführten „Minderwertigen“ nicht überein, und sie wird darin im Laufe des Verfahrens nicht nur von verschiedenen Ärzten bestätigt. 

Gegen den Beschluss des Erbgesundheitsgerichts im Juli 1937 legt sie Beschwerde ein und nimmt sich zunächst einen Anwalt, später vertritt sie sich selbst. Sie weiß nicht, wie schlecht ihre Aussichten sind: In nur zwei Prozent der Beschwerden, die vor ein Erbgesundheitsobergericht kommen, wird zugunsten des Beschwerdeführers bzw. der Beschwerdeführerin geurteilt.49

Freienstein rät daraufhin dem Erbgesundheitsgericht, genauere Erkundigungen über Werners 1918 an der Spanischen Grippe verstorbenen Vater einzuziehen, über dessen Gesundheitszustand er Gerüchte gehört habe. Zwar sei er sich sicher, dass diese Information zur Begründung eines Beschlusses auf Unfruchtbarmachung eigentlich nicht notwendig sei, doch „würde sie dennoch von Bedeutung sein“.50

Ende August wird der Beschwerde Werners stattgegeben und ein Gutachten angefordert. Das Erbgesundheitsobergericht wählt als Gutachter den Eugeniker Prof. Dr. Hellmut Eckhardt aus. 

11 Das Gutachten eines „Krüppelfürsorgers“

Eckhardt ist Orthopäde, seit den 1920er Jahren aktiv in der „Krüppelfürsorge“ und Geschäftsführer der Reichsarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Krüppeltums, die an den staatlichen Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst angebunden ist und mit der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene die Zeitschrift „Volk und Rasse“ herausbringt. Er bringt sich intensiv in die Begleitung der Umsetzung des GzVeN ein, indem er Kriterien für die Zwangssterilisation körperlich behinderter Menschen erarbeitet. Dabei deutet er seine medizinischen Erkenntnisse großzügig im Sinne der Rassenhygieniker und im Einklang mit Freiensteins Ansicht, eine Sterilisation mehr sei besser als eine weniger: 1940 bringt er mit Berthold Ostertag das Werk „Körperliche Erbkrankheiten“ heraus, in dem er seine eigene frühere Haltung bezüglich der Erblichkeit mehrerer Behinderungen revidiert. Petra Fuchs bemerkt hierzu: „Gleichsam bemerkenswert ist die Tatsache, daß der Katalog der schweren vererbbaren körperlichen Behinderungen eben jene Beeinträchtigungen enthielt, die Hellmut Eckhardt 1933 noch als eindeutig ‘nichterbliche’ eingestuft hatte.“51 Diese sollen nun eine Zwangssterilisation erforderlich machen.

Sein Gutachten wirkt sich folgenschwer auf Ida Werners Bemühungen aus, die Zwangssterilisation abzuwenden. Nach einer knapp einstündigen Untersuchung und unter Verzicht auf Röntgenbilder kommt Eckhardt zu dem Ergebnis, „dass es sich nicht nur um eine Entstellung des Körpers bzgl. Teilen desselben handelt, sondern ebenso um eine Funktionsbehinderung der Hand-, Ellenbogen-, Hüft- und Kniegelenke“.

Ida Werner bezeichnet er als „eine Körperbehinderte (Krüppel) im Sinne des Preuss. Krüppelfürsorgegesetzes vom 6. V. 1920, da sie infolge einer angeborenen Erkrankung des Knochens im Gebrauch der Gliedmassen [sic] nicht nur vorübergehend derart behindert ist, dass ihre Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingeschränkt ist.“ Er ergänzt: „Eine männliche Person mit denselben Körperfehlern wäre nicht militärdiensttauglich. Demzufolge ist die Missbildung im vorliegenden Fall als eine schwere anzusehen.“52

Dass die Krankheit erblich ist, könne aufgrund bisheriger Forschungsergebnisse „in jedem sicher diagnostizierten Fall angenommen werden“.53 Dafür spreche bei Ida Werner aber auch „die Aussage eines Arbeitskameraden des verstorbenen Vaters […], nach welcher dieser anscheinend an ‘falscher Gelenkbildung der Arme und Beine’ litt.“ 

Dieser Passus macht deutlich, dass Eckhardt auch das Ergebnis „unauffälliger Erörterungen“ bezüglich des Erscheinungsbildes von Ida Werners Vater vorliegt, die ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin des Wohlfahrtsamts Weimar mit einem ehemaligen Arbeitskollegen durchgeführt hat. Eckhardt endet mit dem Fehlschluss, dass „die Zuverlässigkeit dieser Angabe […] dadurch unterstrichen [wird], dass der Vater nach Aussage der Probandin am Weltkrieg nicht teilgenommen hat“.54 

Seine Hauptaussage, dass Ida Werner auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingeschränkt erwerbsfähig sei und entsprechend als „Krüppel“ gelten müsse, wird von ihr und ihrem Verlobten in späteren Schreiben immer wieder empört zurückgewiesen.

Das Erbgesundheitsobergericht bestätigt in seiner Sitzung im Oktober 1937 erwartungsgemäß den Beschluss zur Unfruchtbarmachung. An diesem Tag beschäftigen sich namhafte Personen mit dem Fall: neben dem Oberlandesgerichtsrat Koehler, der sich schon im Fall von Klara Schwägler hervortut, sind Berthold Kihn, zu dieser Zeit Leiter der Thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda und später ein T4-Gutachter, und Lothar Stengel von Rutkowski, ein enger Mitarbeiter Karl Astels und Abteilungsleiter beim Landesamt für Rassewesen, anwesend. 

Sie folgen in ihrer Begründung dem Gutachten teils wörtlich und betonen, dass Ida Werner auf dem „allgemeinen Arbeitsmarkt“ kaum erwerbsfähig sei. Die Begründung schließt mit einer Wiederholung von Eckhardts Aussage, dass Ida Werner, wäre sie ein Mann, „zum Dienst in der Wehrmacht untauglich“ wäre.55

12 Eine relevante Gegenstimme

Der Beschluss eines Erbgesundheitsobergerichts gilt laut GzVeN als endgültig. Es ist allerdings möglich, den eigenen Fall dem Büro des „Stellvertreters des Führers“ Rudolf Heß vorzulegen. Ida Werner nutzt diese Chance im Herbst 1937, zusätzlich wendet sie sich an den Reichsinnenminister Wilhelm Frick und, nach dessen negativem Bescheid im Januar 1938, erneut an den Stellvertreter des Führers. Das verzögert die Unfruchtbarmachung um einige Monate.

Auf eine Bestätigung des Beschlusses durch den Stellvertreter des Führers kann Freienstein erfahrungsgemäß hoffen, es gilt also, die Bearbeitungszeit abzuwarten und sicherzustellen, dass Ida Werner sich der Operation nicht entziehen kann.

Entsprechend bleibt er nicht untätig: Er bittet die Weimarer Passbehörde im Polizeipräsidium im Februar 1938 um die Sperrung des Passes von Ida Werner. Daraufhin erfährt er von ihrem Umzug nach Berlin und alarmiert das Polizeipräsidium von Berlin Charlottenburg, er habe den „begründeten Verdacht, dass sie sich der Durchführung des Verfahrens durch Flucht ins Ausland entziehen will“.56

Der Entscheid vom Stellvertreter des Führers lässt noch auf sich warten, als es Familie Werner doch noch gelingt, Freiensteins Gewissheit ins Wanken zu bringen. Sie gewinnen einen Mediziner für ein weiteres Gutachten, dessen Meinung nicht ohne weiteres übergangen werden kann: Am 7. März 1938 beantragt Ida Werners Mutter eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Begründung, Dr. Ferdinand Sauerbruch habe ihre Tochter untersucht und schätze den Beschluss des Erbgesundheitsgerichts als einen Irrtum ein. Sein Gutachten werde folgen. 

Sauerbruchs Autorität stellt den Beschluss des Jenaer Erbgesundheitsgerichts zur Unfruchtbarmachung von Ida Werner in Frage und bringt die Routine der Freiensteinschen „Rassenpflege“ durcheinander.

Ferdinand Sauerbruch

Ferdinand Sauerbruch gilt als deutscher Starchirurg, der gerade erst 1937 den von Hitler gestifteten „Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft“57 verliehen bekommen hat.58

Er ist Direktor der Chirurgischen Abteilung der Berliner Charité – eine international hochangesehene Institution, an der medizinische Koryphäen wie Christoph Wilhelm Hufeland59, Rudolf Virchow60, Emil von Behring61, Paul Ehrlich62 und Robert Koch63 tätig waren und deren Name „Charité“ – französisch für Nächstenliebe und Barmherzigkeit – an das ärztliche Berufsethos erinnert. 

Ferdinand Sauerbruch hat sich u. a. mit seiner Erfindung einer Unterdruckkammer, die Operationen im Brustkorb ermöglicht, und einer neuartigen Armprothese, die eine Bewegung der Hand durch Oberarmmuskeln ermöglichte, einen Namen gemacht und genießt insbesondere den Schutz Adolf Hitlers, den er seit den frühen zwanziger Jahren kennt und dessen „Kämpfer“ er nach dem Hitlerputsch in München behandelt hat. 

Sauerbruchs Stellung zum und im NS-Staat gilt als widersprüchlich: Von nationalkonservativer Überzeugung, begrüßt er 1933 öffentlich die „Revolution“ der Nationalsozialisten 193364 und spricht sich auch in den Folgejahren mehrfach öffentlich für den Nationalsozialismus aus. Ab 1941 genehmigt er als Mitglied des Reichsforschungsrats Fördermittel für Experimente an Menschen in Konzentrationslagern und geschlossenen Anstalten – wobei unklar ist, wieviel Einblick er in die menschenverachtenden Details dieser Versuche hat.65

Dem entgegen steht sein politischer Dissens mit den Machthabern, der sich in der Unterstützung und Beherbergung von Opfern der Nazis und Oppositionellen66, im Protest beim Justizminister gegen die T4-Aktion, in seinem Einsatz für jüdische Menschen und zahlreiche Kranke unter Missachtung jeglicher ideologischer Vorgaben zeigt.67

13 Zeitgewinn

Freiensteins Reaktion auf die Ankündigung eines Sauerbruchschen Gutachtens spiegelt diese Ambivalenz wider: Einerseits spricht er sich gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens aus und behauptet vorsorglich, dass Sauerbruchs Gutachten dem von Hellmut Eckhardt, der „ersten Autorität […] auf dem Gebiet der erblichen körperlichen Missbildungen“,68 zu unterstellen wäre. Andererseits bezweifelt er, dass „Prof. Sauerbruch ein derartiges Urteil gefällt haben soll“.

Die Verfahrenswiederaufnahme ist abzusehen, da erhält der Amtsarzt Anfang Mai Nachricht über die Ablehnung der Beschwerde Ida Werners an den „Stellvertreter des Führers“. Sie treibt ihn zu schnellem Handeln an. Er fordert das Gesundheitsamt Berlin-Charlottenburg auf, die Operation nun rasch und wenn nötig „unter Anwendung von Zwang“69 durchführen zu lassen.

Ida Werner wird lange im Unklaren gelassen, ob ihrem Antrag auf Wiederaufnahme stattgegeben wird. Sie bittet  sechs Wochen nach Antragstellung beim Erbgesundheitsgericht um eine Antwort und schreibt: „Die ganze Angelegenheit dauert nun bereits ein ganzes Jahr und bedrückt mich, wie sie sich wohl vorstellen können, seelisch sehr stark.“

Anfang Juni erfährt Freienstein, dass das Erbgesundheitsgericht Jena am 15. Juni über den Wiederaufnahmeantrag verhandelt. Erst am 14. Juni informiert er das Charlottenburger Gesundheitsamt über die nötige Aussetzung der Unfruchtbarmachung und bittet, sollte „die Operation doch schon durchgeführt“70 sein, um den ärztlichen Bericht. 

Doch bleibt das Zeitfenster, in dem Ida Werner in Berlin hätte zwangssterilisiert werden können, von den dortigen Behörden ungenutzt, und am 15. Juni 1938 wird die Wiederaufnahme des Verfahrens „auf Grund der gutachtlichen Äußerung des Direktors der Chirurg. Universitätsklinik der Charité in Berlin“71 beschlossen.

Seine nächste Hiobsbotschaft erhält Freienstein eine Woche später aus dem Polizeiamt Charlottenburg-Tiergarten: Nicht nur konnte Ida Werners Pass trotz Wohnungsdurchsuchung nicht eingezogen werden, da er beim Umzug offenbar verlorenging, sondern es wurde auch ihre Schwangerschaft im achten Monat bekannt.

14 Sauerbruchs Gutachten

Das Gutachten, das Sauerbruch dem Erbgesundheitsobergericht Jena am 13. Juni 1938 zuschickt, bestätigt die Diagnose der kartilaginären Exostosen und differenziert sie: Es sei möglich, dass die „Manifestierung der Erbanlage in der Familie labil ist“,72 also die Exostosen bei Werners Kindern nicht oder weniger zahlreich auftreten, wenn sie die einzige Familienangehörige mit Knochenwucherungen ist.

Den Handlungsmaximen, denen die Rassenhygieniker folgen wollen, stellt sich Sauerbruch entgegen: Im Grunde handle es sich um ein „harmloses Leiden, von einer Gefährdung des deutschen Volkes kann trotz dominanter Erblichkeit nicht die Rede sein“. Selbst Ida Werner, die vergleichsweise viele Exostosen aufweist, werde dadurch kaum behindert – sie treibe Sport und erfülle ihren Beruf voll. Auf Eckhardts Gutachten bezogen schreibt Sauerbruch: „Es ist mir unverständlich, wie man einen solchen Menschen als Krüppel bezeichnen kann, es sei denn, man beschränkt sich auf die Betrachtung der Röntgenbilder.“ Zwar sei die Beckenenge eine schwere Beeinträchtigung, da sie bei einer Geburt zum Kaiserschnitt zwingt, doch sei nicht sie erblich, sondern nur die Anlage zur Bildung von Exostosen, „und niemand kann sagen, in welchem Umfange und an welcher Stelle des Skeletts sie bei der Nachkommenschaft auftreten wird“. Sauerbruch schließt das Gutachten mit seinem Eindruck der „Gesamtpersönlichkeit“ Ida Werners, die „aller Wahrscheinlichkeit nach eine Nachkommenschaft erwarten liesse, deren nicht einmal mit Sicherheit zu erwartenden körperlichen Mängel durch andere wertvolle, ebenfalls erbliche Eigenschaften reichlich aufgewogen würden“. Eine schwere körperliche Mißbildung kann er nicht erkennen.

Nach Vorlage dieses Gutachtens beschließt das Erbgesundheitsgericht Jena die Wiederaufnahme des Verfahrens und fordert eine Stellungnahme Hellmut Eckhardts an. Diese trifft Ende Juni ein. Doch verzögert die bevorstehende Geburt des Kindes den nächsten Verhandlungstermin, bei dem über die beiden Gutachten zu beraten ist, bis zum 20. September. 

Am 9. August bringt Ida Werner in der Charité per Kaiserschnitt eine – wie Ida Werners Mutter berichtet – gesunde Tochter zur Welt. 

15 Der erbpflegerische Standpunkt

In seiner Stellungnahme zu Sauerbruchs Gutachten liefert Hellmut Eckhardt keine neuen Argumente, sondern beharrt– mit der nationalsozialistischen Gesetzgebung im Rücken – auf der Definitionshoheit des „Erbpflegers“, als den er sich selbst sieht. Er billigt Sauerbruch sogar zu, dass, wie bei Ida Werner, „die Behinderung an der körperlichen Leistung gemessen bei den meisten angeborenen Störungen auffallend gering ist“.73 

Er macht allerdings deutlich, dass Sauerbruchs Position für ihn ebenso irrelevant ist wie Ida Werners tatsächliche Lebenssituation, indem er geflissentlich ignoriert, dass Ida Werner und Sauerbruch sich gegen die alltagssprachliche, abwertende Bedeutung des Begriffs „Krüppel“ aussprechen. Eckhardt besteht auf dessen Definition durch die preußische Gesetzgebung.74 Ausschlaggebend jedoch ist für ihn der „erbpflegerische Standpunkt“, demzufolge ein „Krüppel“ ist, wer „zu aussergewöhnlichen Leistungen im Leben, wie z. B. der Krieg erfordert, nicht fähig“ ist. 

Eine bloße Arbeitsfähigkeit reicht demnach nicht, um sich im NS-Staat fortpflanzen zu dürfen, man muss auch kriegsdiensttauglich sein. Eine „auffallend geringe“ körperliche Beeinträchtigung, Sportlichkeit und Berufsbewährung kommen gegen den rassenhygienischen Fokus auf die Erbanlagen und ihre Folgen für die Militärdiensttauglichkeit nicht an. 

Mit dieser Stellungnahme sehen sich der Amtsarzt des Weimarer Landes Grobe, Medizinalrat Brünger und der Beamtenanwärter Schubert gerüstet für die nächste Bestätigung des Beschlusses auf Unfruchtbarmachung der Ida Werner. 

Doch die junge Frau gibt sich selbst nach drei Beschlüssen zur Zwangssterilisation, nach der drohenden Einziehung ihres Passes und einer polizeilichen Wohnungsdurchsuchung nicht geschlagen. Mitte Oktober, während der schlaflosen ersten Wochen mit ihrem Säugling, legt sie erneut Beschwerde beim Erbgesundheitsobergericht ein und beantragt ein Obergutachten. Sie hofft, ihr persönliches Erscheinen mit ihrem Kleinkind könne vollbringen, was das Gutachten Sauerbruchs nicht vermochte: 

„Ich bitte [das Erbgesundheitsobergericht Jena] anzuordnen, dass ich zur neuen Verhandlung persönlich erscheine und mein Kind mitbringe, damit sich das Gericht von dessen normalen Beschaffenheit überzeugen kann. Auch muss ich betonen, dass die angeblichen Missbildungen mich keineswegs stören. Ich schreibe flott Schreibmaschine und Stenografie, verrichte auch alle Hausarbeiten, stille und verpflege mein Kind selbst und betätige mich sportlich eifrig (Rad, Ski, Schwimmen usw.). 

Deshalb glaube ich, zu den wertvollen Menschen zählen zu dürfen. Das Gesetz soll aber doch nur auf minderwertige Menschen Anwendung finden.“75 

Ihr ist klar, dass diese bloße Bitte kaum Aussicht auf Erfolg haben dürfte, weshalb sie sich um eine weitere ranghohe Unterstützung bemüht: Mit ihrem knapp zweimonatigen Kind und dem Beschluss des Erbgesundheitsobergerichts in der Hand stellt sie sich bei Hermann Göring – zu diesem Zeitpunkt Reichswirtschaftsminister und designierter Nachfolger Hitlers im Falle von dessen Tod – vor. 

16 Göring greift ein

Offenbar macht die von Sauerbruch erwähnte „Gesamtpersönlichkeit“ Ida Werners auch auf Hermann Göring Eindruck. Am 15. Oktober teilt dessen Büro dem Erbgesundheitsgericht Jena mit: 

„Auf Grund des persönlichen Eindrucks, den die […] [Werner] gemacht hat, sowie der Tatsache, daß das Kind absolut normale Gliedmaßen hat, sowie ferner vor allem auf Grund des dem Beschluß entgegenstehenden Gutachtens des Prof. Sauerbruch, der doch zweifellos als erste Kapazität in medizinischen Dingen anzusehen ist, ist dem Herrn Feldmarschall [Göring] der Beschluß des Erbgesundheitsgerichts unverständlich. Der Herr Feldmarschall hat daher die [Werner] veranlaßt, sofort Beschwerde gegen den Beschluß vom 20. September 1938 einzulegen. Er nimmt außerordentliches Interesse an dem weiteren Verlauf des Verfahrens.“7

Nachdem sie mit einer Handvoll ärztlicher Atteste bzw. Gutachten keinen Erfolg hatte, schafft Ida Werner es nun, auf politischer Ebene Druck aufzubauen. Das Gericht fordert erneut alle Akten an und setzt eine Verhandlung für Anfang Dezember an. Amtsarzt Freienstein bereitet eine Stellungnahme vor. Sein Schreiben erhält das Erbgesundheitsgericht Anfang Dezember 1938. Es ist nicht nur aufschlussreich für das Verständnis des Zwangssterilisationsverfahrens, es gewährt auch einen Einblick in die Überzeugungen eines hochaktiven Weimarer NS-Täters.

17 Ein Täter spricht Klartext

Freienstein fühlt sich durch das Einschalten von Sauerbruch und Göring dermaßen unter Druck gesetzt, dass er meint, „in Notwehr“ handeln zu müssen. Er wendet sich an SA-Kameraden und bittet um Zeugenaussagen über einen Abend in Fulda, an dem er und weitere SA-Ärzte mit Sauerbruch diskutiert haben.77 

Ihre Aussagen nutzt er in seiner umfangreichen Stellungnahme, in der er mit Verleumdungen beginnt, medizinische Diskussionen anschließt und mit Denunziationen und einer Darlegung seiner weltanschaulichen Grundsätze endet. Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf dieses Schreiben zu werfen, das Freienstein in den Folgejahren unter Verschluss hält. 

Frauenfeindlichkeit

Er beginnt mit einer Charakterisierung Ida Werners und ihrer Mutter, die einmal mehr bestätigt,78 dass Verleumdungen zu seinem Arbeitsstil gehören:

„Für den Charakter der [Ida Werner] sind die Vorhaltungen, die sie dem Gericht machen zu müssen glaubt, typisch. Wenn sie auch in Wahrung eigener Interessen handeln mag, so ist dennoch ihr herausfordernder Ton nicht angebracht. Ich kenne [Ida Werner] und ihre Mutter persönlich von Amtswegen [sic]. Das Verhalten beider ist anmaßend, das der Mutter hysteriform dazu. Bei der [Ida Werner] mag das Krüppelleiden die Psyche z.T. in asoziale Richtung gedrängt haben.“79

In klassisch paternalistischer Haltung glaubt der Amtsarzt, ihm unangenehmes Verhalten pathologisieren zu können: Die Mutter verhalte sich „hysteriform“ – eine Bezeichnung, die in der Geschichte der Misogynie eine besondere Tradition innehat und Frauen eine übermäßige Emotionalität und Labilität unterstellt, aufgrund derer sie nicht in der Lage wären, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Ida Werner unterstellt er, wegen ihrer gekrümmten Arme und Beine „asozial“ geworden zu sein. Darüber hinaus meint er, bei ihr verbrecherische Absichten erkennen zu können:

„Ich empfinde das Vorgehen der [Werner] als einen verantwortungslosen, hinterlistigen Angriff gegen die Gesetze des nationalsozialistischen Staates. […] Ich sehe in ihrer gewollten Schwängerung einen Beweis für ihr antisoziales Verhalten, das als bewußtes Verbrechen anzusehen ist. Ich bitte zu erwägen, ob nicht von dort aus [dem Erbgesundheitsgericht Jena] ein Strafverfahren gegen [Ida Werner] eingeleitet werden kann. Ich glaube, dass die Schwängerung bewußt erfolgt ist.“80

Ida Werner – deren Prozeß über die Unfruchtbarmachung noch Monate nach der Geburt ihrer Tochter nicht abgeschlossen ist – habe sich demnach durch ihre Schwangerschaft eines Verbrechens gegen den Staat schuldig gemacht. Freienstein nennt dies eine „kriminelle Sabotage am nationalsozialistischen Ideengut“ und macht aus einer jungen Frau, die sich wehrt, eine Täterin, eine „Asoziale“ und „Kriminelle“ und den NS-Staat zum Opfer, der nun mit aller Härte zurückschlagen soll.81 

Einige Zeilen darauf macht Waldemar Freienstein klar, dass er glaubt, besser als die Betroffene selbst beurteilen zu können, wie sie sich fühlt:

„Es trifft keineswegs zu, dass die Missbildungen die [Ida Werner] nicht stören. Ihre sportlichen Leistungen sind sicher kaum nennenswerte. Auch Menschen ohne Beine, Blinde und Taube können Schreibmaschine und Stenografie schreiben. Auch Geisteskranke und Schwachsinnige stillen ihre Kinder. Deshalb gehören sie aber noch nicht zu den wertvollen Menschen.“82

Das Absprechen jeglicher Selbstkenntnis drückt aus, wie überlegen sich Waldemar Freienstein der Ida Werner fühlt – bis in privateste Dinge wie das Selbstgefühl – und welche Übergriffigkeit er sich offenbar leisten kann. Im Einklang mit Hellmut Eckhardt anerkennt er Menschen auch dann nicht als „wertvoll“, wenn sie leistungsfähig sind: Jegliche Abweichung von der „Norm“ scheint ihm ein Zeichen von „Minderwertigkeit“ zu sein. 

Freiensteins frauenfeindlicher Ton findet seinen Höhepunkt in den folgenden Zeilen:

„Es ist zu bedenken, dass die [Ida Werner] die wichtigste und wertvollste Funktion des Weibes auf Grund erblicher Missbildungen nicht ausüben kann: das Gebären. Wenn das weibliche Geschlecht aber nicht gebären kann, ist es an sich überflüssig. Dann hätte die Natur nicht den ungeheuren Apparat der Geschlechtlichkeit zu züchten brauchen. Die [Ida Werner] wäre an ihrer Gebärfähigkeit zu Grunde gegangen und von der gütigen Natur ausgemerzt worden, wenn ihr nicht durch rassenschädliche ärztliche Kunst mit dem Messer das Kind aus dem versperrten Leib geschnitten worden wäre. Da die [Ida Werner] diesen ungeheuren Defekt, mit dem sie behaftet ist, nicht einsieht, muss man annehmen, dass ihre Einsichtsfähigkeit von minderem Werte = minderwertig ist.“83

Hier spricht Freienstein Klartext: Eine Frau, die ohne ärztliche Hilfe nicht gebären kann, sollte ihm zufolge sterben. Das Frausein reduziert er auf eine einzige biologische Fähigkeit, die allein Lebensberechtigung liefert84; und Frauen, die dies nicht einsehen, seien als „minderwertig“ anzusehen – mit allen Konsequenzen, die der NS-Staat dafür vorsieht. 

Der Weimarer Amtsarzt formuliert hier einen zentralen Gedanken der Eugenik: Die Fortschritte der Medizin, ja die Medizin selbst (wie auch die Fürsorge und Wohlfahrt) verhindere die „natürliche Auslese“ unter den Menschen. Damit wendet sich Freienstein paradoxerweise gegen sein eigenes Metier, die ärztliche Kunst. In ihrer Hybris, sich als Stellvertreter der – vermeintlich entschlüsselten – Natur zu sehen, wollen Rassenhygieniker wie Freienstein nun deren Aufgabe der Auslese übernehmen. 

Eugenik statt Medizin

Es folgen, wie schon bei Eckhardt, Auslassungen, die Ferdinand Sauerbruch die Kompetenz „auf dem Gebiete der Erbgesundheitspflege“85 absprechen und ihm ein „mangelhaftes Gutachten“86 vorwerfen. Mangelhaft ist es allerdings, wie er nun ausführt, nicht aufgrund medizinisch-fachlicher Schwächen: „Professor Sauerbruch mag in medizinischen Dingen als erste Kapazität angesehen werden, in den Fragen der Erbbiologie und Rassenhygiene, die vorwiegend nationalsozialistische Gedanken enthalten, vermag ich ihn nicht als Autorität anzuerkennen.“87 Vorzuwerfen sei Sauerbruch, dass er „nicht nur der typische Vertreter der Individualhygiene, sondern des Individualismus überhaupt ist“.88 

Damit beginnt Freienstein eine seitenlange Abrechnung mit Sauerbruch, dem er verklausuliert dasselbe vorwirft wie Ida Werner: Individualist(in) zu sein. Bei Ida Werner verkürzt der Amtsarzt das zur Bezeichnung „asozial“, bei Sauerbruch geht er den Weg der politischen Denunziation:

„Als ich vor einigen Monaten mit ihm in Fulda einen längeren Disput hatte, sagte er mir unter Zeugen u.a., dass die Rassenlehre und die Rassenkunde Unsinn seien, dass ihm ein Franzose angenehmer sei als ein Oberschlesier, dass Rasse nicht das Wesentliche sei, was uns bindet, sondern die Staatsidee, […] dass die deutsche Wissenschaft überhaupt nichts mehr leiste, […] dass die Russen in allem viel mehr leisten würden als wir, dass sie nicht nur die besten Flugzeuge und Maschinengewehre sondern auch die besten Wissenschaftler hätten; dass die Partei an allem schuld sei, dass wir keine Partei benötigten, dass die Wissenschaftler deshalb so katastrophal wenig leisten, weil die Partei die besten Köpfe in die Konzentrationslager gesteckt habe oder sie nicht vorwärtskommen ließe, weil sie politisch unzuverlässig seien; dass wir (d.h. ich) alles vom Schwindelstandpunkt des „Völkischen Beobachters“ aus betrachten würden; dass die Juden gar nicht so schlimm seien usw. 

An jenem Abend ging Sauerbruch überhaupt sehr mit seinen Judenfreunden (z.B. Rothschild) hausieren und lobte deren Tüchtigkeit und Leistungen. Ich bin davon überzeugt, dass Herr Sauerbruch Philosemit ist.

Ich sage dies alles nicht, um die Geheime Staatspolizei auf Herrn Sauerbruch aufmerksam zu machen. Ich handle in Notwehr.“89 

Dass er „in Notwehr“ handle, unterstreicht Freienstein rot. Ferdinand Sauerbruch halte er „weltanschaulich für gefährlich“90, weil er mit der Autorität seines Namens „die nationalsozialistische Rassengesetzgebung […] attackiert“91 und dabei sein, Freiensteins, „Ansehen als Erbarzt“92 in Gefahr bringt. 

Folgende Aussage gegenüber dem Erbgesundheitsgericht Jena ist Freienstein zufolge ein Akt der Selbstverteidigung: 

Man muss an den massgebenden Stellen wissen, dass Herr Sauerbruch kein Nationalsozialist ist, dass er unsere Weltanschauung nicht versteht, dass er demnach auch nicht die Gesetzes des nationalsozialistischen Staates verstehen und danach handeln kann, dass er auf dem Gebiete der Erb- und Rassenpflege als Kapazität oder Autorität nicht angesehen werden darf, wenn er Rassenlehre und Rassenkunde als Unsinn bezeichnet.“93

Freienstein formuliert schließlich noch einmal deutlich, dass in Fragen der Unfruchtbarmachung wie bei Ida Werner nicht medizinische Fakten, sondern politische und ideologische Überzeugungen relevant sind.94 Deshalb könne man auch keine politisch unzuverlässigen Mediziner heranziehen, sondern müsse auf Gutachter hören, die ideologisch gefestigt sind: 

„Es handelt sich hier nicht um ‘medizinische Dinge’, sondern um die lebenswichtigen Fragen der Rassenhygiene, die von Nationalsozialisten nicht immer, von ‘Medizinern’ selten verstanden werden. Es ist falsch, Herrn Sauerbruch auf diesem Gebiet, das vorwiegend weltanschaulich-politisch fundiert ist, als Kapazität anzusehen.“95

Eine Weltanschauung ist also laut „einem der besten Amtsärzte Thüringens“ die Grundlage der Sterilisationspraxis. Rassenhygienikern wie Freienstein und Eckhardt gilt das Erscheinungsbild einer als erbkrank diagnostizierten Person als irrelevant: Dem vielbeschworenen „Erbstrom“, der Erbmasse der gesamten Gesellschaft bzw. des „Volkskörpers“, gilt ihre Aufmerksamkeit, und diese sei zu „reinigen“. Die Sterilisation einzelner „Erbkranker“ ist bedeutend als „‘Heilmaßnahme’ für den ‘Volkskörper’, […] als ‘lebensnahe ausmerzende Erbpflege’“,96 die insbesondere späteren Generationen zugutekommen solle. Freiensteins Verantwortung gilt der „Rasse“, und entsprechend sieht er es als „verantwortungslos“ an, Ida Werner weitere Kinder bekommen zu lassen: 

„Ich vermag die Verantwortungslosigkeit nicht aufzubringen, die [Ida Werner] als erbgesund anzusehen und ihr die weitere Kindererzeugung selbst zu überlassen.“97

In seinem letzten Absatz führt der Amtsarzt zwei Aussagen von Bekannten des Vaters der Ida Werner an, die ihn als „nicht normal gewachsen“98 schildern. 

Diese Information wird sich letztlich als gefährlicher herausstellen als die Denunziation von Sauerbruch: Der Starchirurg ist schwer angreifbar, doch eine Weimarer Stenotypistin steht mit dem Rücken zur Wand.

Ideologie der Ungleichwertigkeit

Ida Werner hat wie die meisten Betroffenen der NS-Zwangssterilisationen gegen die Rassenhygieniker in den Heilanstalten, Gesundheitsämtern, Verwaltungsbehörden und Erbgesundheitsgerichten kaum eine Chance, ihre Freiheit und Selbstbestimmung zu verteidigen. Solche individuellen Rechte sehen die Nationalsozialisten als hinderlich für die Erreichung ihrer rassistischen und eugenischen Ziele an. Über die Körper der Menschen gebietet in Friedens- wie auch später in Kriegszeiten der Staat, der sie der Produktion, der Zucht, den Waffen und den Krematorien ausliefert.

Dass dies nicht nur das Programm einzelner Rassenhygieniker ist, sondern Parteilinie und damit Staatsdoktrin, macht der Reichsärzteführer Dr. Wagner in einer Rede auf dem Parteikongress 1937, die später im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird, deutlich: 

„Das eine Schlagwort von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, führte dazu, daß man den einzelnen Menschen betreute und ihm Fürsorge zuteil werden ließ ohne Rücksicht darauf, ob er ein wertvolles oder wertloses Glied des Volksganzen, ob er deutschen, artfremden oder jüdischen Blutes war. Das andere Schlagwort vom Recht des Menschen auf seinen eigenen Körper – ebenfalls aus liberalistisch-marxistischem Geist geboren, war die Ursache, daß jeder glaubte, tun und lassen zu können, was ihm persönlich genehm war, ja daß man sich ernstlich darüber unterhielt, ob man nicht auch der werdenden Mutter das Recht zubilligen müßte, nicht nur über ihren Leib, sondern auch über die Frucht in ihrem Leibe zu verfügen, ihr Kind also nach Gutdünken auszutragen oder abzutreiben. 
Heute steht über diesem Recht des Menschen auf seinen eigenen Körper das Recht des deutschen Volkes.“99

Die ärztliche Ethik mit ihrem Gebot, Kranken nicht zu schaden, sondern zu helfen, hat sich für die deutsche Ärzteschaft um hundertachtzig Grad gewendet. 

18 Der Blick auf die Familie

Anfang Dezember 1938 findet die nächste Sitzung des Erbgesundheitsobergerichts statt. Ida Werner und ihr Verlobter reisen nach Thüringen und werden von Dr. Koehler, Dr. Neuert vom Landesamt für Rassewesen – der die Denunziation des Schwiegervaters in spe an Freienstein weitergeleitet hatte – und Dr. Hangen angehört. Ein Beschluss bleibt aus: Zuvor sollen Werners Schul- und Arbeitszeugnisse eingesehen und Zeugenaussagen zu ihrem Vater gehört werden. Von letzterem wird Familie Werner absichtlich nicht in Kenntnis gesetzt. Werners Antrag auf ein Obergutachten wird, wie von Freienstein gefordert, nicht stattgegeben.

Mitte Dezember erhalten drei Weimarer Justizangestellte eine Vorladung zur Zeugenaussage am 29. Dezember. Ein unentschuldigtes Ausbleiben ist dem Schreiben nach mit Kosten und einer hohen Geldstrafe oder Haft verbunden. Zum Termin finden sich nacheinander alle drei Zeugen im Weimarer Amtsgerichtsgebäude ein und werden von Koehler befragt. Sie berichten übereinstimmend, dass ihnen an Ida Werners Vater die gebogenen Unterarme bzw. deren „eigentümliche Bewegungen“100 auffielen. Im Anschluss befragt Koehler in der Thüringischen Landesversicherungsanstalt in der Erfurter Straße die ehemalige Vorgesetzte der Ida Werner und einen Amtsrat der Versicherungsanstalt, der aus demselben Dorf wie Ida Werners Vater stammt. Die ehemalige Vorgesetzte bescheinigt der Stenotypistin Fleiß und hat sie als „angenehmen Menschen“ in Erinnerung, der „als Persönlichkeit“ allerdings „nicht über dem Durchschnitt“ gestanden habe.101 Der Amtsrat wiederum erinnert sich an Werners Vater und Großvater, die beide „körperliche Verunstaltungen“ aufgewiesen hätten.102 

Kurz darauf schickt Ida Werners Mutter Dr. Koehler die Schul- und Arbeitszeugnisse ihrer Tochter zu. Angesprochen auf die von den Arbeitskollegen bezeugten „Anomalien“ in der Familie ihres verstorbenen Mannes, schreibt sie, die Werners hätten „als Familieneigentümlichkeit nur ein klein wenig X-Beine“, ihr Schwiegervater habe „bis in sein hohes Alter hinein seine Landwirtschaft und noch nebenbei seine Schuhmacherei betrieben“. Ein Bruder ihres Mannes sei zurzeit bei der SS, und ihr Mann sei 1914 „für felddiensttauglich befunden“, dann aber „vom hiesigen Ministerium […] als unabkömmlich [reklamiert]“ worden. Sie nimmt an, die Zeugen hätten „mindestens übertriebene Angaben gemacht“.103

Nach fast zwei Jahren des Kampfes gegen die Zwangssterilisierung ihrer Tochter liest sich ihre abschließende Bitte, ihre „Tochter von den Gesetzen der Unfruchtbarmachung zu befreien“104, wie ein Flehen. Ida Werner schließt ihren dem Erbgesundheitsobergericht zugesandten Lebenslauf ähnlich ab und schreibt: „Ich bitte von meiner Unfruchtbarmachung abzusehen und mir die baldige Heirat mit meinem Verlobten zu gestatten.“ Mit der Courage, die immer wieder aus ihren Briefen spricht, schreibt sie, dass sie die „Erkundigungen“ des Erbgesundheitsobergerichts, d. h. die Zeugenaussagen, „doch nicht für sicher genug“ hält, „um Ihr Urteil damit stützen zu können“.105

19 Der Beschluss

Am 28. Januar 1939 beschließen die Herren Koehler, Neuert und Hangen die Zurückweisung der Beschwerde. Sauerbruchs Argumenten begegnen sie mit der Feststellung: „[Der Senat] hat die Frage, ob eine körperliche Mißbildung schwer und ihr Träger von der Fortpflanzung auszuschließen ist, immer danach beurteilt, ob der Betroffene noch außergewöhnliche Leistungen, wie sie z.B. im Krieg oder in anderen Gefahrenlagen erforderlich sind, ohne fremde Hilfe vollbringen kann und ob die Weitergabe seiner krankhaften Anlagen allgemein für den Fortbestand der Rasse unschädlich ist.“106

Die Begründung des Beschlusses folgt den Stellungnahmen Eckhardts und Freiensteins und liegt ganz auf der Linie der rassenhygienischen Lehre. Auf Görings Schreiben wird nicht eingegangen.

Damit ist die Unfruchtbarmachung Ida Werners rechtskräftig beschlossen. Sie sollte innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Beschlusses in einem der autorisierten Krankenhäuser die Operation durchführen lassen. Doch ganz so glatt, wie Freienstein und seine Kollegen vom Erbgesundheitsobergericht sich das wünschen, geht es nicht.

20 Die Durchführung

Freienstein sendet den Beschluss umgehend dem Berliner Gesundheitsamt zu und bittet, „die Durchführung der Unfruchtbarmachung der [I.W.] auf meine Verantwortung sofort zu veranlassen, auch wenn [I.W.] sich etwa an höhere Stellen wenden sollte“ und empfiehlt die Zwangszuführung. Drei Wochen später erhält er die Nachricht aus dem Berliner Gesundheitsamt, dass Ida Werner nicht auffindbar sei und ihr der Beschluss nicht zugestellt werden konnte. Die polizeiliche Zwangseinweisung sei veranlasst worden. 

Freienstein will daraufhin eine polizeiliche Fahndung anordnen. Ida Werner, nun wieder mit polizeilichen Maßnahmen konfrontiert, hat allerdings schon frühzeitig das Erbgesundheitsgericht Jena über ihren Umzug in einen Vorort Berlins benachrichtigt – die Information ist offenbar nicht weitergeleitet worden. 

Das Gesundheitsamt Berlin-Charlottenburg erfährt inzwischen vom Polizeiamt, dass die Gesuchte Anfang Februar umgezogen ist, und informiert den für Treptow zuständigen Amtsarzt. Freienstein wendet sich daraufhin mit der Bitte um sofortige Zwangseinweisung an ihn. 

Es soll noch einige Wochen dauern, doch im April erhält er eine Abschrift des Ärztlichen Berichts, in dem berichtet wird, dass Ida Werner am 23. März operiert und nach zwölf Tagen „als geheilt entlassen“ wurde.107

21 Kein Neubeginn nach Kriegsende: Die Fortsetzung von Traumatisierung und Stigmatisierung

Mit der Operation endet die Auskunft, die die Akten über Ida Werners Leben geben, noch nicht. Die spätere Korrespondenz zwischen den Gesundheitsämtern Weimar und Treptow, die Freienstein in seiner Akte abheftete, zeugt von einem weiteren Versuch Ida Werners und ihres Verlobten, eine Heiratsgenehmigung zu erhalten. Sie wandten sich mit diesem Antrag an das im Kreis Treptow zuständige Erbgesundheitsgericht. 

Ob ihnen schließlich gestattet wurde zu heiraten, konnte bisher nicht geklärt werden.

Was aus Ida Werner, ihrer Tochter und ihrem Verlobten wurde, könnte wohl nur mit Hilfe von Verwandten oder Nachfahren rekonstruiert werden. Sicher allerdings ist, dass das Leben einer unverheirateten Mutter, die als „rassisch minderwertig“ galt und – eventuell – in „wilder Ehe“ lebte, kein leichtes war. Robert, Ida Werners Verlobter, war im besten Alter, um im Spätsommer 1939 in die Wehrmacht eingezogen zu werden. Das hätte für Ida bedeutet: die Kriegsjahre stigmatisiert, womöglich unverheiratet und alleinerziehend mit einem Kleinkind zuzubringen. 

Welche Folgen das Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht Jena und der Zwangseingriff für die Familie hatte, können wir nur ahnen: Zu dem gewaltsamen Übergriff auf den Körper, der bei vielen Betroffenen zu lebenslangen Beschwerden führte, kommt ein Angriff auf psychischer Ebene hinzu – das Erbgesundheitsgericht Jena fällte ein Urteil über Ida Werner als Person, das sie mit der Autorität einer staatlichen Institution als „minderwertig“ bezeichnet und demütigt. Hinzu kommt die gesellschaftliche Akzeptanz, Menschen verschiedene Wertigkeiten beizumessen. Die Herausforderung, sich gegen diese auch nach 1945 noch weitverbreitete Einstellung ein gesundes Selbstwertgefühl zu erhalten, war immens. 

Mit dieser doppelten Aggression mussten und müssen alle Opfer der Zwangssterilisationen umgehen – oft ohne Unterstützung. 

Etwa 400 000 Männer und Frauen, jung und alt, wurden bis 1945 Opfer der Sterilisationspolitik der Nationalsozialisten. 5000 bis 6000 Frauen und circa 600 Männer starben bei oder infolge der Operation.108 Zu den Zwangssterilisationen kommen Abtreibungen aus „rassenhygienischen“ Gründen hinzu, die häufig gegen den Willen der Schwangeren und insbesondere an Zwangsarbeiterinnen vorgenommen wurden.109 Unter den Zwangsarbeiterinnen führte die hohe Arbeitsbelastung, medizinische Unterversorgung und Mangelernährung vor allem bei jüdischen, polnischen und sowjetischen schwangeren Frauen (sogenannten Ostarbeiterinnen) zu – von den Machthabern beabsichtigten – Fehlgeburten.110

Die radikalste Umsetzung der rassenhygienischen „Auslese“ führten die Nationalsozialisten in den Heil- und Pflegeanstalten, Altenheimen, Strafanstalten, Kinderfachabteilungen und Konzentrationslagern durch, indem sie arbeitsunfähige, psychisch kranke, dauerhaft betreuungs- oder pflegebedürftige Menschen ermordeten. Den Krankenmorden fielen circa 300 000 Menschen zum Opfer. 

Für die oftmals traumatisierten Überlebenden und ihre Angehörigen änderte sich mit dem Kriegsende 1945 wenig: Zwar waren sie nicht mehr in akuter Lebensgefahr, doch beherrschten eugenische Überzeugungen, schon vor 1933 weit verbreitet, weiterhin den biopolitischen Diskurs. 

Viele Betroffene schämten sich, fühlten sich hilflos, verunsichert und gelähmt,111 was sie über das erlittene Unrecht schweigen ließ – auch in der Familie und gegenüber Freundinnen und Freunden. Und wer sprach, musste mit Gegenwehr rechnen: Auch nach dem Ende des NS-Staates waren Behindertenfeindlichkeit, Empathieverweigerung und die Ablehnung von Verantwortung den Opfern der Eugenikverbrechen gegenüber vorherrschend. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder zu Autoritätsgläubigkeit und Härte sich selbst und anderen gegenüber erzogen werden, schafft sich nur geringe Kapazitäten für einen angemessenen Umgang mit Traumatisierungen und ihren Folgen. Auch unter Angehörigen Betroffener der Eugenikverbrechen bildete sich ein Schweigegebot heraus. Andreas Hechler erläutert dessen Voraussetzungen:

„Der zentrale Grund für die innerfamiliären Schweigegebote und die Verleugnung der ermordeten Familienangehörigen sind die Kontinuitäten des Ableismus. Zum einen lebt die gesellschaftliche Stigmatisierung behinderter und psychiatrisierter Menschen fort, zum anderen kann es auch in Familienzusammenhängen überaus komplizierte psychische Konstellationen mit Schuld- und Schamdynamiken geben, wenn beispielsweise die ermordete Tante ‘weggegeben’ wurde oder der ‘anstrengende’ Großvater irgendwann nicht mehr besucht wurde.[112] Diese Gefühle dürften noch gesteigert auftreten, wenn die*der ermordete Familienangehörige Diagnosen hatte, die auch heutzutage anrüchig klingen – ‘gemeingefährliche Irre’, ‘krimineller Geisteskranker’ – oder die Zwangssterilisation aufgrund von Anklagen wie ‘Vergewaltigung’, ‘Diebstahl’, ‘Betrug’ u.ä. durchgeführt wurde. Wer dies nach außen kommuniziert, muss damit rechnen, von seinem Gegenüber skeptisch(er) angesehen zu werden. Die […] Gemengelage aus Ableismus113, Stigmatisierung, Schuld und Scham kann zu einer innerfamiliären Tabuisierung führen, und tut es häufig auch.“114

Das beredte Schweigen über die NS-Eugenikverbrechen und die fortgesetzte Ausgrenzung der Betroffenen setzte sich Jahrzehnte fort und hinterlässt noch heute deutliche Spuren: in den Städten, in denen nichts an die Verbrechen erinnert; im gesellschaftlichen Diskurs, der das Thema kaum streift; in den Köpfen, die Krankheit und Behinderung als Stigma verstehen.

22 Aufarbeitung in der DDR

Der Umgang mit den NS-Verbrechen war in den 1940er Jahren während der Besatzung durch die Alliierten von einem deutlichen Interesse an der Verbrechensaufklärung und jurististischen Verfolgung der Täter geprägt. Doch bald schon und insbesondere nach Gründung der beiden deutschen Staaten machte sich eine „Schlussstrichmentalität“ breit:115 Während viele NS-Täter in den 1950er Jahren in die BRD-Gesellschaft integriert wurden und die NS-Verbrechen einzelnen Verantwortlichen – Hitler, Himmler, Göring etc. – zugeschrieben wurden,116 wies auch die DDR Schuld und Verantwortung von sich, indem sie sich als sozialistische Gesellschaft, die per se antifaschistisch sei, begriff. Das Bedürfnis nach einer Schuldentlastung der breiten Bevölkerung beider Staaten führte dazu, dass sich ab den 1950er Jahren jahrzehntelang nicht oder nur ideologisch gefärbt mit den nationalsozialistischen Verbrechen auseinandergesetzt wurde: In der BRD herrschte lange Zeit Schweigen über die NS-Vergangenheit. Erste Gedenkstätten wurden Ende der 1950er Jahre aufgrund des Engagements von Überlebenden eingerichtet,117 eine mittels einer Ausstellung tatsächlich informative Gedenkstätte entstand erst 1965.118

Zwar wurde in der DDR von staatlicher Seite schon früh ein aktives Gedenken an die „Opfer des Faschismus“ gefördert, indem Gedenkstätten und zahlreiche Denkmäler errichtet wurden. Diese Erinnerungskultur wurde allerdings politisch instrumentalisiert und schloss Opfergruppen wie die Betroffenen der NS-Eugenikverbrechen aus. 

Zugleich fanden eugenische Ideen in der BRD wie auch der DDR weiterhin viele Anhänger*innen. 

Impulse zur Beschäftigung mit diesen Verbrechen kamen in der DDR anfangs vorrangig von Betroffenenorganisationen, später von Einzelpersonen119 oder von kirchlichen Initiativen, die sich ohne staatliche Unterstützung oder gar gegen staatliche Interessen für eine Aufarbeitung einsetzten. So bemühte sich die Gedenkstättenkommission der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) 1951 um eine Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ in der Tötungsanstalt Bernburg. Laut Nora Manukjan wurde „als Folge der zunehmenden Einengung der Erinnerungspolitik […] dieses Vorhaben allerdings von der SED gestoppt“,120 es konnte nur noch ein Gedenkstein in der ehemaligen Gaskammer errichtet werden. Nach der Auflösung des VVN 1953 „wurde die Erinnerungsarbeit […] zur Staatsaufgabe“ und widmete sich vor allem Verfolgten, die „dem idealisierten Bild des ruhmreichen kommunistischen Widerstandskämpfers entsprachen“.121

Erst in den 1980er Jahren – mit einer neuen Generation von Mediziner*innen und der Selbstorganisation von Betroffenen – wurden in beiden deutschen Staaten Stimmen lauter, die auf eine Anerkennung der Betroffenen, ein Gedenken an die Opfer und eine Aufklärung der NS-Eugenikverbrechen drängten. Heute wird darüber hinaus vermehrt ein kritischer Blick auf den Umgang in BRD und DDR mit den NS-Eugenikverbrechen und ihren Opfern eingefordert.

22.1 Die juristische Verfolgung der Täter

In der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR etablierte sich ein Umgang mit den NS-Eugenikverbrechen und deren Betroffenen, der unter den Vorzeichen Ideologie des „real existierenden Sozialismus“ stand und besonders ab den 1950er Jahren kaum eine freie Beschäftigung mit dem Thema zuließ. 

Zunächst allerdings war in allen Besatzungszonen der Anspruch vorherrschend, NS-Verbrecher juristisch zur Verantwortung zu ziehen und ihre Taten aufzuklären. Die bis 1951 durchgeführten Prozesse in allen Besatzungszonen und in der ab 1949 existierenden DDR fanden auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 statt, das u. a. Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahndete und auch die Schuld von Beihelfern und an der Planung von Verbrechen Beteiligten zu prüfen aufgab. 

Zu diesen Verfahren gehört auch der „Euthanasie“-Prozess vor dem Dresdner Landgericht, bei dem über die Schuld von 19 Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern für die Krankenmorde in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein und den Zwischenanstalten Arnsdorf und Großschweidnitz verhandelt wurde. Er führte zu Todesurteilen und teils hohen Zuchthausstrafen, drei Beschuldigte wurden mangels Beweisen freigesprochen.122 Gilt der Dresdner Prozess als fair und rechtsstaatlichen Prinzipien folgend, stehen spätere Verhandlungen wie die Waldheimer Prozesse 195o symbolisch für die nun erfolgende Unterstellung der Justiz unter die Kontrolle des DDR-Regimes.123

Bemerkenswert ist der „Tat- und Täterbegriff“ des in Dresden angewandten Kontrollratsgesetzes, der „von dem Gedanken geleitet [ist], jeden Mitwirkenden, der für das Gesamtverbrechen verantwortlich ist, zur Rechenschaft zu ziehen“.124 Dieser Leitgedanke wurde in der BRD ab den 1950er Jahren zugunsten der Täter aufgegeben125 und in der DDR ab 1947 immer häufiger politischen und propagandistischen Interessen unterstellt.126

Im Rückblick ist festzustellen, dass die Gerichte in Ostdeutschland strikter gegen NS-Täter vorgegangen sind als in Westdeutschland: Während in der „Westzone“ bzw. BRD 441 Ermittlungsverfahren wegen der „Euthanasie“-Verbrechen zu nur 32 Prozessen und 50 Verurteilungen führten, mündeten in der SBZ bzw. DDR 29 Ermittlungsverfahren in 25 Prozesse mit 40 Verurteilungen.127 Täter*innen wurden im Osten häufiger verurteilt und erhielten härtere Strafen, wurden allerdings ebenso wie in der BRD oft auch vorzeitig entlassen.128

Mit einer gewissen Berechtigung wurde in der DDR in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen das Narrativ gepflegt, „daß im Gegensatz zu Westdeutschland in unserem Staat derartige Verbrechen geahndet werden“.129 Damit war der Wille zur (auch propagandistischen) Abgrenzung von der BRD verbunden, die als „Nachfolgestaat“ des NS-Staats diffamiert wurde. 

Tatsächlich wurde die „Entnazifizierung“ in Ostdeutschland in bestimmten Bereichen gründlich durchgeführt, v. a. in der inneren Verwaltung, Justiz und Bildung. Allerdings hatte dieser Anspruch keinen langen Atem, da er in anderen Bereichen pragmatischen Überlegungen unterstellt war und ab den 1950er Jahren das Kapitel NS-Strafverfolgung in der DDR als abgeschlossen galt. NS-Täter wie Margarete Hielscher, die sich unter den neuen ideologischen Vorzeichen in die Gesellschaft integriert haben, hatten kaum mehr zu befürchten, zur Verantwortung gezogen zu werden: So führte im Gesundheitswesen der Fachkräftemangel nach 1945 dazu, dass viele Täter*innen und ihre Helfer*innen unbehelligt weiter tätig sein konnten.130 Auch in den 1950er Jahren wurde auf eine Verfolgung der weiterhin in der DDR lebenden und arbeitenden Täter der NS-Eugenikverbrechen weitgehend verzichtet. So sollte das weiterhin dringend benötigte Gesundheitspersonal im Land gehalten und das öffentliche Bild der DDR als das „bessere Deutschland“, das NS-Verbrechern keinen Unterschlupf bietet, nicht gefährdet werden.131

Dass der „Unterschlupf“ für die Täter*innen der NS-Eugenikverbrechen eben doch existierte, sogar bequem war und ebenso wie in der BRD mit beruflichem Erfolg verbunden, lässt sich am Werdegang des Ärztepersonals der ehemaligen Thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda verfolgen.

Der Leiter der Anstalt bis 1945, Gerhard Kloos, wurde Ende 1946 aus der amerikanischen Internierung entlassen und arbeitete fortan in Westdeutschland als Arzt. Er war an der Universität Kiel und später am Landeskrankenhaus und der Universität Göttingen tätig. 

Seine ehemaligen Mitarbeiterinnen in den Stadtrodaer Heilanstalten Rosemarie Albrecht und Margarete Hielscher jedoch blieben in Thüringen. 

Rosemarie Albrecht

Rosemarie Albrecht leitete von 1940 bis 1942 die psychiatrische Abteilung für Frauen – in der schon ab 1934/35 als „unheilbar geisteskrank“ eingestufte Patientinnen mittels Medikamentenvergiftungen, Minderversorgung, Nichtbehandlung und Verhungernlassen getötet wurden.132 Während Albrechts Tätigkeit stieg die Sterberate ihrer Patientinnen auf 23,5 Prozent.133 

In der DDR war Albrecht eine hochangesehene Chefärztin in Erfurt, Dozentin und später Dekanin an der Universität Jena und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde. 

Im Jahr 2000, als sie 85 Jahre alt war, wurden Unterlagen zu den Krankenmorden in Stadtroda gefunden, die das Ministerium für Staatssicherheit jahrzehntelang unter Verschluss hielt: Das MfS stellte in den 1960er Jahren Untersuchungen zu den Vorgängen in Stadtroda an, um Gerhard Kloos, der inzwischen in Göttingen tätig war, zu belasten. Dabei stießen die Mitarbeiter auf Material, das schließlich nicht an die Öffentlichkeit gegeben wurde. Zu den Gründen für dieses Vorgehen schreibt Nora Manukjan: 

„Während in der Zeit von 1945 bis 1948 aus praktischen Gründen darauf verzichtet wurde, sämtliche Ärzte genau zu überprüfen, erschien es […] [in den 1960er Jahren] vor dem Hintergrund des ‘Wettlaufs der Systeme’ unmöglich, diesen Fehler zu korrigieren. Aufgrund der ständigen Diskreditierung der Bundesrepublik als Nachfolgestaats des faschistischen Deutschen Reichs war es der DDR nicht möglich, eigene Fehler einzugestehen, ohne dass ihr daraus eine Schwächung des eigenen ‘antifaschistischen’ Selbstverständnisses erwachsen wäre.“134

Abgeschlossen und in die Schublade gelegt – wo sie Jahrzehnte blieben – wurden die MfS-Unterlagen mit einem Vermerk in an Orwells Neusprech erinnernder Manier: 

„Da […] Beschuldigte aus der DDR in höheren Positionen des Gesundheitswesens (Frau Dr. Albrecht, Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Jena, Dr. Schenk – stellv. Direktor des Stadtkrankenhauses Stadtroda), stehen, könnte bei Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden. Aus diesem Grunde wird vorgeschlagen, die Bearbeitung des Vorganges mit einer Sperrablage im Archiv des MfS abzuschließen.“135

Das auf die Wiederentdeckung des Materials eingeleitete Verfahren gegen Rosemarie Albrecht wurde 2005 vom Landgericht Gera wegen „Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten“, die auf ihrer Unschuld beharrte, eingestellt. Drei Jahre darauf stirbt Albrecht. In einem Nachruf, der 2008 im Thüringer Ärzteblatt, erschien, heißt es bezüglich der Ermittlungen: „[…] Noch mehr hätte sie sich gefreut, wenn in der Jenaer Öffentlichkeit eine um Verzeihung bittende Geste spürbar geworden wäre.“136

Margarete Hielscher

Albrechts Kollegin Margarete Hielscher leitete in Stadtroda das „Beobachtungsheim“ und war ab 1943 Abteilungsärztin der Kinderfachabteilung, in der Kinder und Jugendliche getötet wurden.137 1946 sagte ein ehemaliger Patient über Hielscher aus: „Diese Frau war in der ganzen Anstalt als üble Menschenschinderin bekannt.“138 

Hielscher beschloss als ärztliche Beisitzerin am Erbgesundheitsgericht Jena die Durchführung von Zwangssterilisationen. Sie war in der NSDAP, im NS-Ärztebund und in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Nach dem Krieg wechselte sie dann zur SPD, war später Mitglied der SED, des Demokratischen Frauenbunds, in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und im Deutschen Roten Kreuz. Sie verblieb an ihrem Arbeitsplatz in Stadtroda, bis sie 1965 in den Ruhestand ging. 1973 erhielt sie eine „Medaille für treue Dienste im Gesundheitswesen“ – in Gold. Sie musste sich für ihre Taten in Stadtroda zeitlebens nicht verantworten. 

Erich Drechsler

Hielschers Kollege am Erbgesundheitsgericht Jena, Erich Drechsler, sollte nach 1945 in Amt und Würden kommen: Im NS-Staat entschied er über Zwangssterilisationen und assistierte dem T4-Gutachter Berthold Kihn (der bis 1938, also vor Kloos, Leiter des Landesheilanstalten Stadtroda war) an der Nervenklinik in Jena. Ab 1945 war er, der sich schon in seiner Jugend in der Sozialistischen Arbeiterjugend engagierte, KPD-Mitglied und stieg 1947 zum Leiter des Hauptamts Gesundheitswesen im Thüringer Ministerium für Arbeit und Sozialwesen auf.139 Als ein junger Lehrer Drechslers Sterilisationsgutachten entdeckte und sich an die Behörden wandte, versuchte dieser, „den Lehrer zu entmündigen und in eine Anstalt einweisen zu lassen“.140 Ab 1949 leitete Drechsler das Landeskrankenhaus Stadtroda, 1956 wurde er als „Verdienter Arzt des Volkes“ geehrt. Auch er hatte mit keiner strafrechtlichen Verfolgung zu rechnen.

22.2 Sterilisationspraxis und Debatten um ein Sterilisationsgesetz

In der sowjetischen Besatzungszone wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Januar 1946 offiziell als NS-Unrecht deklariert und aufgehoben141, Wiederaufnahmeverfahren fanden nicht statt. Auf dieser Grundlage wurden im März 1946 drei Ärzte, die an die NS-Sterilisationspraxis mitgewirkt haben, in Cottbus vor Gericht gestellt. 

Aus dem Gesundheits- und Justizwesen kamen allerdings rasch Einwände gegen die juristische Verfolgung von medizinischem Personal: Zum einen hieße das, einen großen Teil der Ärzteschaft zur Verantwortung zu ziehen, was durch deren Abwanderung in die westlichen Besatzungszonen einen umfassenden Fachkräftemangel hätte nach sich ziehen können. Zum anderen wurden eugenische Zwangssterilisationen insbesondere von deutschen Mitarbeitern der Justizverwaltung der SBZ nicht als problematisch angesehen. Daraufhin erließ die sowjetische Militärverwaltung im Mai 1946 eine neue Anweisung, dass lediglich „rassisch“ oder politisch motivierte Sterilisationen als NS-Unrecht gelten. Darunter fallen z. B. Zwangssterilisationen von jüdischen Menschen und politisch Oppositionellen, nicht aber von Menschen wie Ida Werner, Klara Schwägler und Kurt Apel. 

1948 bat die sächsische Landesregierung bei der Berliner Sowjetverwaltung der SBZ sogar um eine gesetzliche Regelung von Sterilisationen, was von Wladimir Lindenberg, dem stellvertretenden Chef der Zentralstelle der Gesundheitsverwaltung, in einem internen Schreiben begrüßt wurde. Dabei wurden nicht nur Unfruchtbarmachungen aus medizinischen Gründen angesprochen, sondern auch eugenisch und sozial motivierte Sterilisationen im Falle bestimmter Erbkrankheiten, „sozialer Lebensumstände“ und „triebhafter Psychopathen“.142

Dass dieses Vorhaben nicht in die Praxis umgesetzt wurde, ist u. a. Carl Coutelle, dem Vorgesetzten Lindenbergs und Leiter verschiedener Abteilungen der sowjetischen Gesundheitsverwaltung, zu verdanken, der soziale und eugenische Sterilisationen klar ablehnte – die von Seiten der kommunistischen Bewegung, der Coutelle schon in der Weimarer Republik angehörte, als „Klassenmedizin“ verworfen wurde.143

Unabhängig von den Debatten um ein neuerliches Sterilisationsgesetz wurden zwischen 1945 und 1949 weiterhin inoffiziell Abtreibungs- und Sterilisationsanträge von Ärzten an Gesundheitsämter bzw. die Gesundheitsverwaltungen der Länder gestellt, denen aus medizinischen, eugenischen, sozialen oder „ethischen“ Gründen stattgegeben wurden.144 Stefan Jehne gibt hierfür Beispiele, bei denen es sich um von den Betroffenen stets befürwortete Operationen handelte, doch legen die Unterlagen Zweifel am freien Einverständnis oder an der Aufgeklärtheit der Betroffenen über die tatsächliche Notwendigkeit des Eingriffs nahe.145 Die medizinischen Gutachten und Genehmigungen wurden von Ärzten ausgestellt, die „rassenhygienisch“ geschult waren und an der NS-Praxis der Zwangssterilisationen und Krankenmorde beteiligt waren.146

Ab 1949 galt die Regelung, dass Sterilisationen aus eugenischen und sozialen Gründen illegal sind. Dennoch sind weitere Bemühungen von ärztlicher Seite um eugenische Unfruchtbarmachungen in den 1950er Jahren nachweisbar, ebenso sprachen sich u. a. die Leiter der Frauenkliniken in Rostock, Jena, Leipzig und Halle weiterhin für ein Sterilisationsgesetz auf Grundlage des eugenischen Gedankens aus. Heinz Mehlan, ein bekannter Sozialhygieniker und „Vater der ‘Wunschkindpille’“, wie die Anti-Baby-Pille in der DDR hieß, setzte sich 1957 für eugenische Sterilisationen und Abtreibungen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, angeborener Epilepsie, Schizophrenie und angeborenem „erheblichem Schwachsinn“ ein und argumentierte in einem Schreiben an das Gesundheitsministerium für eugenisch begründete Abtreibungen mit den Worten, dass andernfalls „ein Schwarm von schwachsinnigen und psychopathischen Kindern […] in unsere Dauerheime [wandert] und […] vielfach Kindern arbeitsbereiter Mütter den Platz weg[nimmt]“.147 Die Erforderlichkeit von Sterilisationen aus eugenischen und sozialen Gründen rechtfertigt er damit, dass ohne sie bei einer bestimmten Bevölkerungsgruppe „eine Schwangerschaftsunterbrechung […] auf die andere [folgt]. Dieses lässt sich bedauerlicherweise bei manchen asozialen, debilen, triebhaften Mädchen nachweisen“.148

Die DDR-Gesundheitsverwaltung lehnte diese Ansuchen trotz Sympathien für die Eugenik ab, da der Abgrenzung von der NS-Sterilisationspraxis Priorität zukam.

22.3 Ausbleibende Anerkennung und Unterstützung der Betroffenen

Laut der Richtlinien von 1950, die die Anerkennung als „Verfolgte des Naziregimes“ regelten, hatten auch Personen, die „aus rassischen oder politischen Gründen“ zwangssterilisiert wurden – also nur ein kleiner Teil der Betroffenen –, einen Anspruch auf besondere Fürsorgeleistungen.149 Damit eröffnete sich ihnen ein Zeitfenster, Anträge auf Anerkennung als „VdN“ zu stellen – es schloss sich allerdings schon 1953 wieder, als dieser Personenkreis aus den Richtlinien wieder herausgenommen wurde.

Angehörige und überlebende Betroffene der „Euthanasie“-Verbrechen hatten nicht einmal dieses Zeitfenster: Nach der Einrichtung von Ausschüssen der „Opfer des Faschismus“ (OdF) 1945, deren Zweck die Unterstützung und Anerkennung von Verfolgten und Geschädigten der NS-Verbrechen war, wurde 1946 ein Gremium zur Untersuchung der „Euthanasie“-Verbrechen eingerichtet, das in mehreren Tageszeitungen Angehörige von Opfern der Krankenmorde aufrief, sich zu melden. Das führte zu einer Reihe von Anträgen auf Anerkennung als „Opfer des Faschismus“. Mit einer solchen Anerkennung hätte man ein Anrecht auf Unterstützungsleistungen erhalten. Die Antragsteller*innen wurden jedoch vertröstet mit Hinweis auf eine ausstehende Stellungname vom Alliierten Kontrollrat, die allerdings nie kam.150 1949, zwei Tage vor Gründung der DDR, wurde mit der „Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes“ festgelegt, dass anerkannte Verfolgte staatliche Unterstützung erhalten. Menschen, deren Angehörige Opfer der Morde an Kranken und Behinderten wurden, wurden hiervon durch Nichterwähnung ausgeschlossen. 

Hinzu kommt ein DDR-spezifisches Konzept des Umgangs mit NS-Opfern: Anders als in der BRD ging es hier nicht um Wiedergutmachung und finanzielle Entschädigung, sondern um Fürsorgeleistungen, materielle und sachliche Unterstützung und die gesellschaftliche Anerkennung der persönlichen Opfer, die während der NS-Zeit und bestenfalls im Widerstand erbracht wurden. Dieser „Fürsorgecharakter“, wie Manukjan es nennt, führt – verbunden mit einem auch in der DDR weiterhin vorherrschenden Ableismus – zu einer befremdlichen Schlußfolgerung: 

„Behinderte gehörten im Verständnis der Gesellschaft zum Kreis der Personen, für die zumeist Angehörige vermehrte Aufwendungen leisten mussten. Nach diesen Verständnis führte der Tod von Behinderten zu keiner Verschlechterung der materiellen Situation der Hinterbliebenen. ‘Euthanasie’-Geschädigte konnte es nach dieser Interpretation also nicht geben. Aus dieser verengten Sicht erübrigte sich die Aufnahme Angehöriger von ‘Euthanasie’-Opfern in die Fürsorgeleistungen für die ‘Opfer des Faschismus’.“151

Ihr Leid wurde öffentlich kaum thematisiert: Was Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten während der NS-Zeit widerfuhr, galt als „Privatsache“.152 Nur wenige wagten den langen bürokratischen Versuch, auf Antrag eine Entschädigung zu erhalten, und noch seltener waren sie damit erfolgreich. Fürsorgeleistungen wie auch Anerkennung war in der DDR v. a. jenen Opfergruppen vorbehalten, die im NS-Staat aus politischen Gründen verfolgt wurden.

23 Aufarbeitung in der BRD

Ähnlich wie in der DDR wurden die Opfer der NS-Eugenikverbrechen nicht vergessen, sondern bewusst ausgeschlossen. Eine Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ bzw. des Nationalsozialismus wurde ihnen verwehrt. Das erklärt sich zum einen durch personelle Kontinuitäten im Gesundheitswesen beider deutscher Staaten und zum anderen durch die fortwährende Akzeptanz der eugenischen Vorstellung, dass manche Menschen „mehr wert“ seien als andere. 

Ins Auge fällt jedoch, dass sich nicht nur viele NS-Täter in Westdeutschland berechtigte Hoffnungen auf eine zweite Karriere – bis in hohe politische Ämter153 – machen konnten, sondern auch eine Besonderheit im Umgang mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.

In Bayern wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1945 aufgehoben, in Hessen sollte es bis auf weiteres nicht mehr angewandt werden, ähnlich wurde es im damaligen Württemberg-Baden gehandhabt. Da die Erbgesundheitsgerichte abgeschafft wurden, konnten keine neuen Sterilisationsanträge gestellt werden – wenn auch das Gesetz weiterhin Geltung hatte. 

In der britischen Besatzungszone entschied man sich, auf seiner Grundlage Wiederaufnahmeverfahren an den Amtsgerichten zu ermöglichen.154 Von den Zwangssterilisationen Betroffene konnten sich um ein solches Verfahren bemühen, um einen Härteausgleich zu erhalten oder die Kosten für den Versuch, die Fruchtbarkeit operativ wiederherzustellen, erstattet zu bekommen. 

23.1 Wiederaufnahmeverfahren

Was dies für sie konkret bedeutete, schildern Kathrin Braun und Svea Luise Herrmann: Sie „mussten […] darlegen, dass in ihrem individuellen Fall die Sterilisation nach NS-Recht unrechtmäßig gewesen war, da z. B. die Diagnose falsch war oder Verfahrensfehler vorgelegen hatten“.155 Das hieß dann nicht selten, den früheren Peinigern wieder in einer ähnlich traumatischen Situation gegenüberzustehen: „Häufig kamen dabei die alten Dokumente und Gutachten, die bereits den NS-Erbgesundheitsgerichten vorgelegen hatten, erneut zum Einsatz, manchmal auch die damaligen Richter und Gutachter.“ 

Die Chance, ein solches Verfahren zu gewinnen, war gering. Wie Ernst Klee schreibt: „Überlebende NS-Opfer haben erfahren müssen, daß Tätern mehr geglaubt wird als ihnen“156 –auch im Falle der Wiederaufnahmeverfahren galt das Wort der Gutachter, Ärzte und Richter immer noch mehr als das Wort ihrer Opfer.

Mit der Praxis der Wiederaufnahmeverfahren, die bis in die achtziger Jahre noch stattfanden,157 setzte sich die Herabwürdigung der Betroffenen unvermindert fort: „Die Rechtsgrundlage dieser Prozesse war das NS-Sterilisationsgesetz selber, so dass der Unrechtscharakter des Gesetzes selbst in diesem Rahmen nicht thematisierbar war. Im Gegenteil: das Gesetz wurde operativ – durch das Handeln der Akteure – immer wieder als gültig bestätigt.“158

23.2 Eugenisches Denken

Mit der fortdauernden Gültigkeit der Sterilisationsbeschlüsse und der Anwendung des Gesetzes durch die Wiederaufnahmeverfahren wurden auch Grundprinzipien des eugenischen Denkens – die unterschiedliche Wertigkeit der Menschen abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit, der Vorrang einer abstrakten erbbiologischen „Volksgesundheit“ gegenüber dem individuellen Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung – in der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft als moralische Grundsätze bekräftigt. 

In den fünfziger Jahren wurde sogar die Vereinbarkeit des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mit dem Grundgesetz159 gerichtlich vom Oberlandesgericht Hamm wie gutachterlich von Ernst-Walther Hanack festgestellt. Das bedeutete, dass das Sterilisationsgesetz nicht automatisch als durch das Grundgesetz „aufgehoben“ galt. Der Gutachter Hanack ging sogar so weit zu behaupten, die Ablehnung einer Zwangssterilisation wiederspreche der „Verpflichtung, die Rechte anderer“ – gemeint ist der „Erhalt der Volksgesundheit“„zu achten.“160

23.3 Entschädigungspolitik

Das 1953 in der BRD erlassene Bundesentschädigungsgesetz, das Verfolgten des Nationalsozialismus eine Entschädigung in Aussicht stellte, verfestigte ebenfalls die fortbestehende Ausgrenzung der Opfer der nationalsozialistischen Eugenikverbrechen: Anträge auf Entschädigung konnte nur stellen, wer im NS-Staat aus „Gründen politischer Gegnerschaft“ oder aus „Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verfolgt wurde. Eine zwangssterilisierte Person hatte lediglich dann ein Anrecht auf Entschädigung, wenn sie „nicht aufgrund eines Erbgesundheitsgerichtsbeschlusses“ – also ohne Gerichtsverfahren – „sterilisiert wurde“.161 Auf die wenigsten der circa 400 000 Opfer der Zwangssterilisation traf dies zu.

Damit waren Ida Werner, Klara Schwägler, Kurt Apel und die Hunderttausenden anderen Betroffenen der Zwangssterilisation, wie Braun und Herrmann klarstellen, „keine ‘vergessenen Opfer’, wenn es solche überhaupt je gegeben hat, sondern sie waren bewusst aus Entschädigungsregelungen ausgeschlossen worden“.162

Begründet wurde dies damit, dass die nationalsozialistischen Zwangssterilisationen lediglich ein Beispiel eugenischer Maßnahmen gewesen seien, wie es sie auch in anderen Staaten gab: In den skandinavischen Ländern, der Schweiz und den USA wurden Menschen ebenfalls unter Zwangsanwendung sterilisiert, um ein spezifisch nationalsozialistisches Unrecht könne es sich daher nicht handeln.

Dieses Argument wurde insbesondere von NS-Tätern oft hervorgebracht.163 Die Rede vom nicht NS-spezifischen Unrecht ignoriert dreierlei: die massenhafte und staatlich verwaltete Umsetzung der Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus sowie die damit verbundene massive Gewaltanwendung.164

Allein das quantitative Ausmaß sei anhand einiger Zahlen von Gisela Bock verdeutlicht:

„Während des Höhepunkts der internationalen Rassenhygiene, von 1933 bis 1945, wurden […] in Deutschland rund 14 mal so viele Menschen sterilisiert wie in den gesamten Vereinigten Staaten. In Deutschland wurden 1933–45 rund 10 mal so viele Menschen sterilisiert wie in den Vereinigten Staaten zwischen 1907 und 1945; bezogen auf die Bevölkerung, wurde vor 1945 in Deutschland über 30 mal so häufig sterilisiert wie in den USA.“165

23.4 Freiensteins Entnazifizierung: ein „Kämpfer gegen die NS-Gewaltherrschaft“

Auch Waldemar Freienstein machte sich die Rede von der nicht NS-spezifischen Erb- und Rassenpflege zunutze. In seiner Stellungnahme zum Fall Ida Werner betonte er noch, dass „Erbbiologie und Rassenhygiene […] vorwiegend nationalsozialistische Gedanken enthalten“166 und „weltanschaulich-politisch fundiert“167 sind und daher von politisch unzuverlässigen, wenn auch fachlich hervorragenden Ärzten nicht „verstanden“ und umgesetzt werden können. 

Gut zehn Jahre später – er hatte inzwischen eine dreijährige Internierung in der amerikanischen und der französischen Besatzungszone hinter sich – verfasste er eine weitere Stellungnahme. Der Spruchkammer Gießen, die 1949 über seine „Entnazifizierung“ entschied, teilte er mit: „Es ist durchaus nicht so, […] dass die Wissenschaft der Erbbiologie und Rassenhygiene eine spezifisch nationalsozialistische sei. Es ist eine in der ganzen zivilisierten Welt anerkannte, praktisch und theoretisch betriebene, exakte Wissenschaft […]. Die Beschäftigung mit diesem Fachgebiet war demnach keine spezifisch nationalsozialistische, sondern eine korrekt wissenschaftliche. Eine Sonderausbildung auf diesem Gebiet und Spezialkenntnisse hierin sind auch heute noch ein anerkannter Vorteil.“ 

Der ehemalige Amtsarzt ergänzte: „Dem Fachmann hierin werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes wieder ‘berufliche Möglichkeiten eröffnet’. Die anglo-amerikanische Wissenschaft kämpft z. Zt. einen heftigen Kampf gegen die politisch-inaugurierte sowjetische Meinung; es kann kein Zweifel sein, dass sich die reine Wissenschaft des Westens auf die Dauer durchsetzen wird.“168

Freienstein erwartete also die – durchaus diskutierte – erneute Anwendung eines Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in der BRD, und er erhoffte sich „berufliche Möglichkeiten“, die sich ihm als „Fachmann“ damit eröffnen würden. Über das „weltanschaulich-politische“ Fundament seiner „Fachkenntnisse“ behielt er Stillschweigen, zumindest vor Gericht.

Mit diesen An- und Aussichten war Weimars ehemaliger Amtsarzt nicht allein. Während die von Zwangssterilisationen Betroffenen weiterhin stigmatisiert, ausgegrenzt und beschämt werden, stilisierten sich die Täter als bloß pflichtbewusste Ärzte und Richter ohne jeden Handlungsspielraum und machten wieder Karriere. Einige genierten sich nicht, sich als Gegner des Nationalsozialismus zu bezeichnen. 

Waldemar Freienstein wurde in seinem Entnazifizierungsverfahren durch verschiedene „Persilscheine“ entlastet, darunter ist einer von Gerhard Kloos – dem früheren Leiter der Landesheilanstalten Stadtroda, der bald wieder eine Klinik leiten sollte und ab 1954 sogar gerichtlicher Sachverständiger für Wiedergutmachungsangelegenheiten war. 

Freienstein selbst schrieb, was viele Täter kundtaten und womit sie sehr erfolgreich waren: „Ich habe nicht im Sinne der ‘NS-Machthaber’, sondern im Sinne der Gesetze fungiert, die für jeden Beamten maßgebend waren. Ich glaube nicht, dass es im Sinne des Säuberungsgesetzes liegt, jeden Beamten des III. Reiches, der seine Pflicht getan hat, zum Belasteten zu stempeln.“169 Einige Auslassungen später behauptete er gar: „Ich habe mich nicht ‘fanatisch und überdurchschnittlich für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft eingesetzt’ (siehe Entlastungszeugnisse, besonders auch das des Dozenten Dr. Dr. G. Kloos vom 25.1.49). Ich habe die Gewaltherrschaft sogar bekämpft […]. Meine Anschauung war ein nationaler Sozialismus eigener Prägung ohne Gewalt.“170

Freienstein, der „Kämpfer gegen die NS-Gewaltherrschaft“, wurde schließlich als Minderbelasteter der Stufe III bezeichnet und zur Zahlung von 250 DM verurteilt. Ein Jahr später eröffnete er in Germersheim am Rhein eine Arztpraxis. Er starb 1967 an einem Herzinfarkt.

23.5 Täterkarrieren und Tätermacht

1961 beriet der Bundestagsausschuss darüber, ob Betroffene der Zwangssterilisationen ein Recht auf Entschädigungszahlungen erhalten sollten. Hierzu wurden als Sachverständige angehört: Helmut E. Ehrhardt, Hans Nachtsheim und Werner Villinger. Die Wahl der Fachleute spricht Bände über den Zustand der bundesdeutschen Aufarbeitung nationalsozialistischer Eugenikverbrechen: Der Neurologe Ehrhardt betätigte sich als Gutachter am Erbgesundheitsgericht, zum Zeitpunkt der Beratung war er am Marburger Lehrstuhl für Forensik und Sozialpsychiatrie tätig. Hans Nachtsheim leitete ab 1941 die Abteilung für experimentelle Erbpathologie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, das „medizinische“ Versuche an Menschen im KZ Auschwitz mit betreute. 1951 stand er dem Institut für Genetik an der FU Berlin vor. Der Rassenhygieniker Werner Villinger war Richter an den Erbgesundheitsobergerichten Hamm und Breslau, T4-Gutachter sowie Chefarzt der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel. Bis Herbst 1936 stellte er 2854 Anzeigen auf Unfruchtbarmachung der Pfleglinge und ließ – illegal – Sterilisationen an Ausländer*innen durchführen.171 1948 war er einer jener Ärzte, die sich um ein neues Eugenik-Gesetz bemühten,172 und bekleidete danach noch ein Jahrzehnt lang Führungspositionen an der Marburger Universität und Universitäts-Nervenklinik.

Villinger und sein früherer Schüler Ehrhardt stellten sich gegenseitig gewagte, doch erfolgreiche „Persilscheine“ aus (Villinger habe die Euthanasie stets bekämpft, Ehrhardt sei im aktiven Widerstand tätig gewesen) und wurden entnazifiziert. Auch Nachtsheim hatte nichts zu befürchten.173 Diese Lebenswege erinnern nicht zufällig an Ida Werners Gutachter Eckhardt, dem noch Ende der 1990er Jahre eine „kämpferische[] Abwehrhaltung gegen dieses menschenfeindliche Gesetz [zur Verhütung erbkranken Nachwuchses]“ bescheinigt wurde. 

Nun, vor dem Bundestagsausschuss, plädierten die drei Sachverständigen dafür, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nicht als NS-Unrecht, sondern als maß- und verantwortungsvolle Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verstehen. Villinger prognostizierte den Geschädigten im Falle ihrer Anerkennung als „Verfolgte des Nationalsozialismus“, an einer „Entschädigungsneurose“ zu erkranken: „Es ist die Frage, ob dann nicht neurotische Beschwerden und Leiden auftreten, die nicht nur das bisherige Wohlbefinden und […] die Glücksfähigkeit dieser Menschen, sondern auch ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.“174 Hier meinte die Ärzte wieder besser als die Betroffenen selbst zu wissen, wie es ihnen geht.175 Eine Entschädigung wurde den Opfern der Zwangssterilisationen daraufhin über Jahrzehnte verwehrt.

23.6 Später Wandel

Ida Werner befand sich, wenn sie da noch lebte und zudem Bürgerin der Bundesrepublik war, 1968 in folgender Situation: 

Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses findet noch praktische Anwendung in Wiederaufnahmeverfahren, die noch lange nach 1945 überzeugtes NS-Personal beschäftigten und die Klägerinnen und Klägern oft mit dem Verweis, sie seien keine Verfolgten des Nationalsozialismus, abweisen. Die Chance, eine Entschädigungszahlung zu erhalten, ist gering und erfordert den Nachweis, dass das Sterilisationsgesetz nicht korrekt angewendet wurde. Justiz und Ärzteschaft sind durchsetzt von Altnazis, sozialdarwinistische und eugenische Überzeugungen werden als „normal“ und vernünftig angesehen. Ida Werners Urteil zur Zwangssterilisation ist noch immer gültig, das Stigma der erbbiologischen „Minderwertigkeit“ haftet ihr noch immer an. Das hieß z. B., dass ihr auch in der BRD die Adoption eines Kindes verwehrt werden konnte.176

Erst 1969 wurde das Gesetz in der BRD offiziell in wesentlichen Teilen, 1974 dann vollständig außer Kraft gesetzt – und dennoch fanden weiterhin Wiederaufnahmeverfahren auf seiner Grundlage statt. Es verging wieder ein Jahrzehnt, bis 1986 ein Gericht – das Kieler Amtsgericht – feststellte, dass das Gesetz dem Grundgesetz widerspreche. 

Die Urteile der Erbgesundheitsgerichte, deren Rechtmäßigkeit noch bis in die achtziger Jahre individuell bestätigt oder verworfen wurde, bezeichnete der Bundestag 1988 schließlich als NS-Unrecht. Dennoch blieben sie gültig – bis sie 1998 aufgehoben wurden. 

Erst 1980 konnten zwangssterilisierte Menschen Entschädigungszahlungen erhalten. Die jüngsten unter ihnen dürften zu dem Zeitpunkt um die fünfzig Jahre alt gewesen sein. Es war die Zeit der Psychiatriereform, in der Betroffene sich organisierten und u. a. den Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten gründeten. Auch die Antipsychiatriebewegung, die sich in der BRD z. B. in der Arbeit der Westberliner Irren-Offensive zeigte, und die Psychiatriereform, die von einer neuen Generation von Psychiater*innen initiiert wurde, änderten langsam den gesellschaftlichen Diskurs über Gewaltanwendung im gesundheitlichen Bereich. 

Offiziell als NS-Unrecht geächtet wurde das Sterilisationsgesetz der Nationalsozialisten erst 2007. Die von den Opfergruppen geforderte Nichtigkeitserklärung des Gesetzes wurde allerdings abgelehnt und ist bis heute nicht geleistet worden – mit dem Hinweis, das Gesetz sei seit Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr gültig. Diese Verweigerung ignoriert den Umstand, dass die Praxis bundesdeutscher Politik und Rechtsprechung jahrzehntelang den Widerspruch zum Grundgesetz nicht anerkannt hat.

23.7 Das Unrecht zweiter Ordnung

Braun und Herrmann nennen die Geschichte der bundesdeutschen Entschädigungspolitik ein „Unrecht zweiter Ordnung“. Sie weisen auf die Problematik hin, dass „die Ächtungserklärung von 2007 zwar das Unrecht erster Ordnung“ – d.h. die Zwangssterilisationen – thematisiere, jedoch „die Reflektion auf das Unrecht zweiter Ordnung“ ausschließe, „indem sie es für unnötig erklärt. Der Unrechtsdiskurs bleibt auf das Unrecht des Nationalsozialismus beschränkt, das Unrecht, welches in der Bundesrepublik geschehen ist, wird entproblematisiert.“177

Eine Aufarbeitung der NS-Eugenikverbrechen erfordert auch den Blick auf den Umgang mit ihren Opfern in der BRD und DDR. Noch heute allerdings wird diesbezüglich wenig unternommen.

Im November 2022 wurde der Historiker Wolfgang Benz im Rahmen einer Ausschusssitzung im Bundestag gefragt, ob er eine Nichtigkeitserklärung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses befürworte. Seine Antwort ist deutlich und bis heute – Stand 2024 – aktuell: 

„Es ist schwer verständlich, dass es bis 2007 gedauert hat, bis der Scheinfortexistenz dieses Gesetzes aus dem Jahr 1933, das seit 1934 in Kraft war, ein Ende gesetzt wurde. Eine Ächtung bedeutet allerdings nicht die Beseitigung. […] Die absolute Beseitigung dieses Gesetzes in seiner Scheinexistenz – angewendet wird es seit langer Zeit nicht mehr – ist absolut notwendig. Mit einem solchen Gesetz, auf das man sich im Zweifelsfall noch berufen kann, kann kein Fortschritt in der Erinnerung, im Gedenken, in der Anerkennung der Verfolgten gelingen.“178

Inzwischen gibt es kaum noch Verfolgte, die das Ende dieser „Scheinfortexistenz“ des Gesetzes und ihre Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus erleben können: Im August 2023 lebten noch 18 registrierte beihilfeberechtigte Zwangssterilisierte.179


Quellennachweise

Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar

- Thüringisches Ministerium des Innern E746

- Thüringisches Ministerium des Innern E1783

- Thüringisches Ministerium des Innern E1484 

- Thüringisches Ministerium des Innern E 1764

- Thüringisches Justizministerium Nr. 647 

- Thüringisches Volksbildungsministerium A 218 

- Personalakte aus dem Bereich Gesundheitswesen Nr. 52

- Erbgesundheitsgericht Jena 425 

- Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 2278 

- Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918 

Stadtarchiv Weimar

- 12 – Stadtverwaltung 1919-45, 2-26-3 Zwangsweise Zuführung von Personen in Heilanstalten wegen ansteckender Krankheiten 

- 12 – Stadtverwaltung 1919-45, 6-61-31 Überprüfung gesundheitsschädigenden Wohnraums, Einzelfälle, Bd. 4

- 12 – Stadtverwaltung 1919-45, 6-61-14, 

- Städtisches Krankenhaus Weimar – Krankenakten Bd. 1, 1937

Print und Online

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Jens Nielsen, Kirsten Freienstein: Schweigepflicht, Arnstadt 2021, Kirchschlager 

Renate Renner, Das Landeskrankenhaus Stadtroda während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der „Euthanasie“ und Zwangssterilisation (Hg.), Herbsttagung 1997, Stadtroda 1998

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Renate Renner: Zur Geschichte der Thüringer Landesheilanstalten/des Thüringer Landeskrankenhauses Stadtroda 1933 bis 1945 unter Berücksichtigung der nationalsozialistischen „Euthanasie, Jena 2004 (unveröffentlichte Dissertation, ein Exemplar befindet sich in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek)

Petra Schweizer-Martinschek, Die Strafverfolgung von NS-„Euthanasie“-Verbrechen in SBZ und DDR, Thalhofen 2016, Bauer-Verlag

Nora Manukjan: „Euthanasie“ – das lange verdrängte Verbrechen. Zum Umgang mit den nationalsozialistischen Krankenmorden in der SBZ und DDR, in: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen – Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004, Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft und Michel-Sandstein-Verlag 

Nora Manukjan, Der Dresdner „Euthanasie“-Prozess im Kontext der strafrechtlichen Verfolgung von „Euthanasie“-Verbrechen in der SBZ/DDR, in: Boris Böhm, Gerald Hacke (Hg.): Fundamentale Gebote der Sittlichkeit – Der „Euthanasie“-Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947, Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten Bd. 14, 2008

Sarah Kleinmann: … es war nicht nur die Mauer da zwischen Ost und West, es waren etliche Mauern aufgebaut. Erfahrungen von NS-„Euthanasie“-Gechädigten und Zwangssterilisierten in der DDR und nach 1989/90, in: Ira Spieker (Hg.): Umbrüche. Erfahrungen gesellschaftlichen Wandels nach 1989, Dresden 2019, Sandstein-Verlag 

Stefan Jehne: Continuity of „Race Hygiene“? Discourses and Practices of Sterilization in the Soviet Occupied Area and the Early GDR 1945–1961, Vortrag am 4.6.2021 auf der Online-Konferenz „Mother, Father, Child, Health. The History of Reproduction“, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=h2iUdJE_xuI&list=PL95WGtaJwqwC6hF6-03GMA4aTnFFQbst4&index=10

Braun, Herrmann, S. 34 und Horst Illiger: Sprich nicht drüber! Der Lebensweg von Fritz Niemand, Neumünster 2004, Die Brücke Neumünster 

Wolfgang Ayaß: Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus (Sammelrezension), in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 10, Berlin 1992, S. 226–229

Kathrin Braun, Svea Luise Herrmann: Unrecht zweiter Ordnung: Die Weitergeltung des Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses in der Bundesrepublik, in: Sonja Begalke, Claudia Fröhlich, Stephan Alexander Glienke (Hg.): Der halbierte Rechtsstaat. Demokratie und Recht in der frühen Bundesrepublik und die Integration von NS-Funktionseliten, Baden-Baden 2015, Nomos

Kathrin Braun, Svea L. Herrmann, Ole Brekke: Zwischen Gesetz und Gerechtigkeit – Staatliche Sterilisationspolitiken und der Kampf der Opfer um Wiedergutmachung, in: KJ Kritische Justiz, 2012 (3), S. 298-315, abrufbar unter https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0023-4834-2012-3-298/zwischen-gesetz-und-gerechtigkeit-staatliche-sterilisationspolitiken-und-der-kampf-der-opfer-um-wiedergutmachung-jahrgang-45-2012-heft-3?page=1 

Susanne Hartig: Trauma und transgenerationale Übertragung traumatischer Erfahrungen: der Fall Annemarie Siegfried und seine Folgen, in: Rebekka Schwoch (Hg.), Umgang mit der Geschichte der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation, Berichte des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, Bd. 13, Köln 2023, Psychiatrie-Verlag, S. 108–115

Ernst Klee: „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a.M. 2022, Fischer

Lars Polten: Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Erinnern und Erzählen. Biographische Interviews mit Betroffenen und Angehörigen, Studien zur Volkskunde in Thüringen Bd. 10, Münster 2020, Waxmann

Wortprotokoll der 14. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien, Bundestag, Berlin, 26.9.2022 

Entnazifizierungsakte zu Waldemar Freienstein; Sammlung Freienstein/Nielsen 

Vortrag zu den Landesheilanstalten Stadtroda von Dörte Ernst, Sammlung Lernort Weimar, abrufbar unter www.lernort-weimar.de 

https://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/114/194  

https://dokumen.pub/konzeptgeschichten-zur-marburger-psychiatrie-im-19-und-20-jahrhundert-1nbsped-9783737009959-9783847109952.html 

https://www.aerzteblatt.de/archiv/54007/Gesetz-zur-Verhuetung-erbkranken-Nachwuchses-Aechtung-nach-74-Jahren

Margret Hamm, AG Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, fortwährend aktualisierte Zeittafel, abrufbar unter: https://www.euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de/wp-content/uploads/2018/03/zeittafel-entschaedigungspolitik-2018.pdf 

https://dserver.bundestag.de/btd/16/038/1603811.pdf

https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/aexavarticle-swr-59400.html

https://www.dhm.de/lemo/biografie/ferdinand-sauerbruch 

https://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0206/ausschuesse/a14/anhoerungen/044/stellg/DGCh.pdf

https://www.geschichtswerkstatt-als.de/de/prof_bier.html  

https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0136_ebn&object=translation&st=&l=de 

http://ns-quellen.at/gesetz_anzeigen_detail.php?gesetz_id=23610&action=B_Read 

https://www.uni-kassel.de/uni/aktuelles/sitemap-detail-news/2021/04/22/so-viel-nsdap-vergangenheit-hatte-die-bonner-elite-der-adenauerzeit?cHash=d7bd0b4c7e2231f047494ee1461ece5e  

https://www.aerzteblatt.de/archiv/64055/Zeitgeschichte-Dresdener-Euthanasie-Prozess

https://www.bpb.de/themen/erinnerung/geschichte-und-erinnerung/39814/geschichte-der-erinnerungskultur-in-der-ddr-und-brd/ 


Endnoten

  1. LATh-HStAW, Thüringisches Ministerium des Innern E746, Bl. 36r
  2. LATh-HStAW, PA aus dem Bereich Gesundheitswesen Nr. 52, Bl. 21
  3. LATh-HStA, PA aus dem Bereich Gesundheitswesen Nr. 52, Bl. 27; Freienstein, Nielsen: Schweigepflicht, S. 58
  4. Vgl. Carola Sachse und Benoit Massin: „Biowissenschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten und die Verbrechen des NS-Regimes“, in: Ergebnisse. Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“, hg. v. Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Berlin 2000, abrufbar unter https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/Ergebnisse/Ergebnisse3.pdf 
  5. Brief von Astel an Leffler, 18.6.33; LATh-HStAW, Volksbildungsministerium Weimar, Rassenhygiene A218, Bl. 10v
  6. Neben seiner Tätigkeit als Amtsarzt ist Waldemar Freienstein Vertrauensarzt der Krankenhilfe Thüringer Landwirte,der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin und der Thüringischen land- und forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft in Weimar, Ärztliches Vorstandsmitglied des Weimarer Kinderkrankenhauses, Schwesternarzt des Weimarer Sophienkrankenhauses, Lehrbeauftragter zur Geschichte der Medizin an der Universität Jena, Chefarzt des Hilfskrankenhauses (für Zwangsarbeiter*innen) an der Dürrenbacher Hütte, Leiter der Krankenpflegeschule des Sophienkrankenhauses, Urlaubsvertretung des Chefarztes des Städtischen Krankenhauses, Theaterarzt u. a., vgl. Freienstein, Nielsen: Schweigepflicht, S. 60 f.
  7. Kurt Apel wird 1940 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ermordet.
  8. Renate Renner, „Das Landeskrankenhaus Stadtroda während der Zeit des Nationalsozialismus“, in: Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der „Euthanasie“ und Zwangssterilisation (Hg.), Herbsttagung 1997, Stadtroda 1998, S. 31
  9. LATh-HStA Weimar, Thueringisches Ministerium des Innern E1484, Bl. 78r und v
  10. LATh–HStA Weimar, Thüringisches Ministerium des Innern E 1484, Bl. 189r
  11. StadtA Weimar, 12 – Stadtverwaltung 1919-45, 2-26-3 Zwangsweise Zuführung von Personen in Heilanstalten wegen ansteckender Krankheiten, Bl. 23
  12. StadtA Weimar, 12 – Stadtverwaltung 1919-45, 6-61-31 Überprüfung gesundheitsschädigenden Wohnraums, Einzelfälle, Bd. 4, Schreiben Freiensteins vom 4.12.1940 an die Stadtkämmerei Weimar
  13. Vgl. Wolfgang Voigt, „Wohnhaft“, in: Arch+ 75/76, Aachen 1984, S. 82–89
  14. StadtA Weimar, 12 – Stadtverwaltung 1919-45, 6-61-31 Überprüfung gesundheitsschädigenden Wohnraums, Einzelfälle, Bd. 4, Schreiben vom 28.11.1940 von der Stadtkämmerei Weimar an das Staatliche Gesundheitsamt Weimar
  15. StadtA Weimar, 12 – Stadtverwaltung 1919-45, 2-26-3 Zwangsweise Zuführung von Personen in Heilanstalten wegen ansteckender Krankheiten, Bl. 26
  16. Die Namen einiger der hier genannten Personen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert.
  17. LATh–HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 154
  18. LATh–HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 151
  19. LATh–HStAW, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 2278, Bl. 3
  20. LATh–HStAW, Ministerium des Innern E1783, Bl. 171
  21. LATh-HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 2278, Bl. 5
  22. Alfred Plötz, einer der Begründer der „Rassenhygiene“, skizziert in seinem Buch Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen (Berlin 1895) auf den Seiten 144 und 147, wie er sich eine rassenhygienisch ausgerichtete Gesellschaft vorstellt: 

    „[…] Stellt sich trotzdem heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Ärzte-Kollegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dose Morphium. Die Eltern, erzogen in strenger Achtung vor dem Wohl der Rasse, überlassen sich nicht lange rebellischen Gefühlen, sondern versuchen frisch und fröhlich ein zweites Mal, wenn ihnen dies nach ihrem Zeugnis der Fortpflanzungsbefähigung erlaubt ist. […] Besonders für Dinge wie Krankheits- und Arbeitslosen-Versicherung, wie die Hülfe des Arztes, hauptsächlich des Geburtshelfers, wird der strenge Rassenhygieniker nur ein missbilligendes Achselzucken haben. Der Kampf um’s Dasein muss in seiner vollen Schärfe erhalten bleiben, wenn wir uns rasch vervollkommnen sollen […].“

    Mit den Worten „frisch und fröhlich“ wischt Plötz jeden Gedanken an eine mögliche Traumatisierung der Eltern vom Tisch und offenbart den Grad seines Einfühlungsvermögens, der ihn allen Ernstes einen Staat erträumen lässt, dessen Ideologen wirtschaftliche Not, Krankheit und seelisches Leid mit einem Achselzucken quittieren. 

  23. Als „Ballastexistenzen“ haben Alfred Hoche und Karl Binding 1920 kranke und behinderte Menschen in ihrer Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ bezeichnet. Die Publikation eröffnete aufgrund der „Seriosität“ der Autoren – die Universitätsprofessoren waren – dem eugenischen Diskurs die Türen der Hochschulen. Vgl. Armin Trus: Die „Reinigung des Volkskörpers“, Gießen 2019, Metropol, S. 57
  24. Sippschaftstafeln nach Karl Astel bieten einen Überblick über drei Generationen einer Familie. Vermerkt sind neben den wichtigsten Lebensdaten körperliche Merkmale der gelisteten Familienmitglieder, Berufe, Krankheiten und Todesursachen.
  25. LATh-HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 2278, Bl. 8
  26. Dies ermöglicht seit dem 18.10.1935 das Ehegesundheitsgesetz (Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes). S. http://ns-quellen.at/gesetz_anzeigen_detail.php?gesetz_id=23610&action=B_Read 
  27. LATh-HStA Weimar, Staatliches Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar Nr. 2278, Bl. 16
  28. Schon zur Zeit der Weimarer Republik wurde die Sterilisation von Teilen der Bevölkerung diskutiert und ein Gesetz dazu entworfen. Die entscheidende Neuerung, die 1933 eingebracht wurde, ist die Möglichkeit der Anwendung von Zwang. Vgl. Johannes Vossen: „Erfassen, ermitteln, untersuchen, beurteilen“, in: Margret Hamm (Hg.), Lebensunwert – zerstörte Leben, Frankfurt/Main 2005, VAS
  29. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, MV Wissenschaft, Münster 2010, S. 295. 

    Das System der flächendeckenden staatlichen Gesundheitsämter entsteht erst 1934 durch das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens. Bis dahin konnten Gesundheitsämter z. B. auch kommunal geführt werden, standen also unter der Aufsicht der Gemeinde. Die Einrichtung staatlicher Gesundheitsämter in jedem Stadt- und Landkreis Deutschlands zielt auf einen hierarchisch klar strukturierten Gesundheitsdienst ab, der reichsweit einheitliche Antworten auf – so die Präambel zum Gesetz – „Fragen, ob erbgesund oder erbkrank, leistungsfähig oder nicht leistungsfähig, bevölkerungspolitisch wichtig oder unwichtig“, liefern kann.

  30. Im psychiatrischen Teil des Gutachtenvordrucks finden sich Vorformulierungen wie „Hemmung“, „Sperrung“, „formale Störungen“, „Wahnideen“ und „Zwangsvorstellungen“, da die Amtsärzte meist keine Fachärzte für Psychiatrie waren.
  31. LATh-HStAW, Thüringisches Justizministerium Nr. 647, Bl. 98r 
  32. Zitiert aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, § 6 (1), https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0136_ebn&object=translation&st=&l=de 
  33. LATh-HStAW, Thüringisches Volksbildungsministerium A 218, Bl. 2r
  34. Bock, S. 93
  35. Bock, S. 121. Der Rassenhygieniker Fritz Lenz behauptet 1934 im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik: „So wie die Dinge liegen, ist nur noch eine Minderheit von Volksgenossen so beschaffen, daß ihre unbeschränkte Fortpflanzung wertvoll für die Rasse ist.“ Auf einem ähnlichen Gedanken beruhen heutige Vorstellungen von einem „Bevölkerungsaustausch“, auch „Überfremdung“, „Großer Austausch“ oder „Volksmord“ genannt, die von der Neuen Rechten und Verschwörungsideologen verbreitet werden.
  36. Bock, S. 264
  37. Ebd.
  38. Bock, S. 296
  39. LATh-HStAW, Ministerium des Innern E 1764, Bl. 33
  40. Vossen, S. 89
  41. StadtA Weimar, 12 – Stadtverwaltung 1919-45, 6-61-14, Bl. 2-4
  42. Bock S. 232, Vossen S. 87
  43. Es wurden ebenso viele Männer wie Frauen zwangssterilisiert, allerdings starben Frauen wesentlich häufiger an den Operationen oder ihren Folgen. Sie machten 90 Prozent der Todesfälle aus. Vgl. Bock, S. 9.
  44. Z. B. in: StadtA Weimar, Städtisches Krankenhaus Weimar – Krankenakten Bd. 1, 1937, Lfd. Nr. 874
  45. Vossen, S. 96
  46. Siehe hierzu auch Bock, S. 258
  47. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 6
  48. Gisela Bock verweist darauf, dass „alle ernsthaften Rassenhygieniker, einschließlich der nationalsozialistischen, […] sich wohl bewußt [waren], daß es sich hier um eine Pseudo-Ökonomie handelte, daß das Sterilisieren kostspielig war, daß die öffentlichen Aufwendungen dadurch weder unmittelbar noch langfristig reduzierbar waren und daß die Mittel, die man den ‘Wertvollen’ versprach, nicht durch Sterilisieren, sondern einzig durch Finanzpolitik frei würden: nämlich durch Kürzung der Ausgaben für Wohlfahrt, für Anstalten und durch Verweigerung von Familienunterstützung für ‘Minderwertige’.“ (Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus, S. 107)
  49. Bock, S. 257
  50. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 16
  51. Petra Fuchs: „Krüppel“ zwischen Emanzipation und Selbstaufgabe am Beispiel der Entstehung und Entwicklung des Selbsthilfebundes der Körperbehinderten (1919–1945) und der Biographie Hilde Wulffs (1898–1972), Dissertation, TU Berlin 1999, https://bidok.uibk.ac.at/library/fuchs-krueppel-diss.html.

    Interessanterweise wird noch 1999 von Seiten der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V. an Eckhardt mit den Worten erinnert: „Das bereits 1933 erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das die Unfruchtbarmachung (Sterilisation) von Trägern erblicher, auch körperlicher, Gebrechen („Mißbildungen“) zur Pflicht machte, berührte das bisherige Selbstverständnis der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge substantiell. […] Es hat im Verband jedoch nicht an kämpferischer Abwehrhaltung gegen dieses menschenfeindliche Gesetz gefehlt. Prof. Gocht, Dr. Schede und Dr. Eckhardt seien hier ausdrücklich genannt. Leider blieben ihre Bemühungen ohne großen Erfolg. Die Kräfte aus dem öffentlichen Leben, die nötig gewesen wären, dieses Unrecht zu verhüten, waren in Deutschland zu schwach.“ Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V. (Hg.), Von der Krüppelfürsorge zur Rehabilitation von Menschen mit Behinderung, Heidelberg 1999, S. 12, https://docplayer.org/3174308-Von-der-krueppelfuersorge-zur-rehabilitation-von-menschen-mit-behinderung.html 

    Eckhardts Kollege, der Pathologe Ostertag, hatte keine Scheu, mit dem Reichsausschuss zusammenzuarbeiten und in Kinderfachabteilungen ermordete Kinder zu obduzieren. Nach dem Krieg baute er in Tübingen das Institut für Hirnforschung auf und erhielt 1964 das Große Bundesverdienstkreuz. (https://de.wikipedia.org/wiki/Berthold_Ostertag#cite_ref-WeristWer1127_1-0

  52. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 48r
  53. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 49r
  54. Ebd. Später, im Januar 1939, weist Ida Werners Mutter in einem Brief an das Erbgesundheitsobergericht darauf hin, dass ihr verstorbener Mann „zwar nicht Soldat gewesen [ist], aber nur deshalb nicht, weil er, nachdem er nach Kriegsausbruch für felddiensttauglich befunden wurde, vom hiesigen Ministerium reklamiert wurde als unabkömmlich“. (Erbgesundheitsgericht Jena, 425, Bl. 168)
  55. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 23v
  56. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 51v
  57. Eine Art nationalsozialistischer Ersatz für den Nobelpreis, den anzunehmen Hitler allen Deutschen untersagte, seit der Weltbühne-Herausgeber Carl von Ossietzky im Jahr zuvor damit ausgezeichnet wurde.
  58. Offenbar war Sauerbruch über diese „Ehrung“ zuvor nicht informiert worden. Vorgeschlagen wurde er von Göring. Der Reichsärzteführer Wagner protestierte massiv dagegen und wollte den Preis an August Bier, einen ebenfalls verdienten und inzwischen pensionierten Chirurgen an der Charité, der sozialdarwinistische Ideen schon in den 20er Jahren vertrat (https://www.geschichtswerkstatt-als.de/de/prof_bier.html), verleihen. Schließlich einigte man sich darauf, dass Bier und Sauerbruch sich den Preis teilen sollten. Reichspropagandaminister Goebbels schildert in seinem Tagebuch, wie es zur Preisverleihung kam: „Sauerbruch haben wir noch mit Ach und Krach von Baden-Baden nach hier mit dem Flugzeug geholt. Er wird sich wundern. Nachmittags kommen Dr. Wagner und Genossen und protestieren stark gegen Sauerbruch. Er sei ein Judenknecht etc. Gegen seine wissenschaftlichen Verdienste können sie nichts vorbringen. Wir gehen zum Führer, aber der will nicht zurück. Schließlich einigen wir uns auf folgender Basis: ein Preis wird in zwei Raten zu je 50.000 Mk verteilt. Eine Rate Bier, eine Sauerbruch.“ Eintrag vom 10.9.1937, Joseph Goebbels: Tagebücher 1924–1945, Bd. 3, hg. von Ralf Georg Reuth, München 1992, Piper
  59. Arzt von Goethe, Schiller, Wieland und Herder wie auch des Königs Friedrich Wilhelm III. und Förderer der Pockenschutzimpfung
  60. Begründer der modernen Pathologie
  61. Entwickler von Antitoxinen gegen Diphterie und Tetanus
  62. U. a. Entdecker des ersten Antibiotikums und Mitbegründer der modernen Chemotherapie
  63. Begründer der modernen Bakteriologie, Mikrobiologie, Immunologie und Allergologie
  64. https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/aexavarticle-swr-59400.html
  65. https://www.dhm.de/lemo/biografie/ferdinand-sauerbruch und https://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0206/ausschuesse/a14/anhoerungen/044/stellg/DGCh.pdf, S. 327
  66. In seiner Berliner Villa fanden Treffen einiger Mitglieder der „Mittwochsgesellschaft“ statt, die zur Vorbereitung des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 dienten.
  67. Fridolf Kudlien, Christian Andree: „Sauerbruch und der Nationalsozialismus“, in: Medizinhistorisches Journal Bd. 15, Heft 3 (1980), S. 201–222, hier S. 217, www.jstor.org/stable/25803619
  68. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 52r
  69. Ebd., Bl. 55v
  70. Ebd., Bl. 56v
  71. Ebd., Bl. 57r
  72. Ebd., Bl. 72
  73. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 6r
  74. Ebd., Bl. 6r und 7r: „Übrigens sind solche Menschen, trotz bester Berufsbewährung, Krüppel im Sinne des § 9 des Preuss. Gesetzes betr. öffentliche Krüppelfürsorge. In meinem Gutachten habe ich unter Heranziehung des Wortlautes des § 9 des Preuss. Krüppelfürsorgegesetzes den Nachweis geführt, dass bei der Probandin ein Krüppelleiden im Sinne des Gesetzes vorliegt“. Er gibt hier allerdings eine bloße Behauptung als Nachweis aus. 

    Das Gesetz sagt aus, dass als „verkrüppelt“ gilt, wer „nicht nur vorübergehend derart behindert ist, daß […] [seine] Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkte voraussichtlich wesentlich beeinträchtigt wird“ (vgl. Fuchs, 1.5, Absatz 4). Dass eine solche Beeinträchtigung nicht vorliegt, trägt Ida Werner bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor.

  75. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 73v
  76. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 139
  77. Ebd., Bl. 78r und 79r
  78. Dieses denunziatorische Vorgehen ist auch für seinen Umgang mit anderen „Patienten“ und „Patientinnen“ wie Margarete Eilers und deren Mann Albert nachzuweisen.
  79. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, B. 150r
  80. Ebd., Bl. 150r–151r
  81. Die hier vollzogene Täter-Opfer-Umkehr spielt im Kontext von frauenfeindlichen Übergriffen ebenfalls eine traditionsreiche Rolle und findet ihren alltäglichen Ausdruck in Kommentaren wie „Warum zieht sie auch einen so kurzen Rock an“ bezüglich Vergewaltigungsopfern. Auch im rechtspopulistischen Milieu nehmen Täter die Opferrolle häufig werbewirksam ein, während die Aggression tatsächlich von ihnen ausgeht.
  82. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 151r
  83. Ebd., Bl. 151r
  84. Repräsentativ für alle Rassenhygieniker spricht Freienstein hier allerdings nicht. Gisela Bock schreibt in Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: „Der hygienische – und anthropologische – Rassismus brach mit der älteren Lehre von der ‘Natur’ des weiblichen Geschlechts, von der ‘natürlichen Bestimmung des Weibes zur Mutterschaft’, die seit Ende des 18. Jahrhunderts […] theoretisiert worden war […]. […] [Eine] weibliche ‘Biologie’, die Frauen zur Mutterschaft bestimmte, gab es in der Bilderwelt und Realität des Nationalsozialismus nicht.“ (S. 130 f.) 
  85. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 151r
  86. Ebd., Bl. 152r
  87. Ebd., Bl. 152r
  88. Ebd., Bl. 154r
  89. Ebd., Bl. 154r
  90. Ebd., Bl. 154r
  91. Ebd., Bl. 155r
  92. Ebd., Bl. 155r
  93. Ebd., Bl. 154r–155r
  94. Und doch wurde nach 1945 bestritten, dass die Eugenikverbrechen nationalsozialistische Verbrechen waren. Bis heute sind die Opfer der Zwangssterilisationen und der „Euthanasie“ nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.
  95. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 155r
  96. Bock, S. 108
  97. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 155r. Ein Passus, den er offenbar häufiger nutzte und der deutlich macht, wem bzw. was er sich verantwortlich fühlt.
  98. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 155r
  99. 1937 Rede des „Reichsärzteführers“ Dr. Wagner auf dem Parteikongress 1937, abgedruckt im Deutschen Ärzteblatt am 25.9.1937
  100. LATh–HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 1r, 1v
  101. Ebd., Bl. 2r
  102. Ebd., Bl. 2r, 2v
  103. Ebd., Bl. 167 
  104. Ebd., Bl. 168r
  105. Ebd., Bl. 170r
  106. Ebd., Bl. 176
  107. LATh-HStAW, Staatliches Gesundheitsamt Stadtkreis Weimar 918, Bl. 99
  108. https://dserver.bundestag.de/btd/16/038/1603811.pdf 
  109. Gisela Bock schätzt die Zahl dieser Abtreibungen auf mindestens 30 000. Vgl. Bock, S. 433.

    Auch in Weimars „Ausländerkrankenhaus“ – der medizinischen Einrichtung für Zwangsarbeiter*innen an der Dürrenbacher Hütte – wurden Abtreibungen vorgenommen. Der verantwortliche Arzt war Waldemar Freienstein.

  110. Vgl. Bock, S. 481 f.
  111. Vgl. u. a. Schwoch, S. 108
  112. Häufige Besuche von Angehörigen und die Unterstützung der Familie konnte für Patient*innen der Heilanstalten lebensrettend sein. So wurde auf den T4-Meldebögen, mit denen die Heilanstalten ihre Bewohner*innen nach Berlin meldeten, die Regelmäßigkeit der Besuche abgefragt. Aufmerksame Familien, die nachfragen oder protestieren, erschwerten die unauffällige Durchführung der Krankenmorde.
  113. „Ableismus“ bezeichnet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, indem sie als „weniger wert“ und weniger befähigt angesehen werden. Ableismus führt zu und nährt sich aus Stereotypen und verengtem Denken, sozialer Behinderung und Ausgrenzung der Betroffenen. 
  114. Andreas Hechler: „Tradierung im Feld der NS-‘Euthanasie’ – Probleme der gedenkpolitischen Arbeit durch Angehörige“, in: Umgang mit der Geschichte der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation, hg. v. Rebecca Schwoch, Köln 2023, Psychiatrie-Verlag
  115. Petra Schweizer-Martinschek, Die Strafverfolgung von NS-„Euthanasie“-Verbrechen in SBZ und DDR, Thalhofen 2016, Bauer-Verlag, S. 63, Nora Manukjan, „Der Dresdner ‘Euthanasie’-Prozess im Kontext der strafrechtlichen Verfolgung von ‘Euthanasie’-Verbrechen in der SBZ/DDR“, in: Boris Böhm, Gerald Hacke (Hg.): Fundamentale Gebote der Sittlichkeit, 2008, S. 199
  116. Kleinmann, S. 88
  117. https://www.bpb.de/themen/erinnerung/geschichte-und-erinnerung/39814/geschichte-der-erinnerungskultur-in-der-ddr-und-brd/ 
  118. Kleinmann, S. 88
  119. Hier sind u. a. die Mediziner Hanns Schwarz, Peter Reumschüssel und Achim Thom mit ihren Forschungsarbeiten zu nennen, der Geschichtslehrer Günter Kosmol, der in Pirna mit seinen Schüler*innen zur Tötungsanstalt Sonnenstein arbeitete, und der Theologe Kurt Nowak, der sich in seiner Dissertation der NS-„Euthanasie“ und den Zwangssterilisationen widmete. Um Erinnerungsmedien bemühten sich Mitarbeiter*innen des Psychiatrischen Krankenhauses Bernburg 1975 – mit ihrer Ausstellung zum NS-Gesundheitssystem und der Geschichte ihres Arbeitsortes standen sie allein auf weiter Flur. Vgl. Manukjan, „Euthanasie“ – das lange verdrängte Verbrechen. Zum Umgang mit den nationalsozialistischen Krankenmorden in der SBZ und DDR, in: Stifung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen – Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004, Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft und Michel-Sandstein-Verlag, S. 179 ff.
  120. Nora Manukjan, Umgang, S. 185
  121. Ebd., S. 185
  122. https://www.aerzteblatt.de/archiv/64055/Zeitgeschichte-Dresdener-Euthanasie-Prozess 
  123. Nora Manukjan, Der Dresdner „Euthanasie“-Prozess, S. 197. Zu den Waldheimer Prozessen schreibt Manukjan: „[…] [Sie] dienten der Legitimation der Internierung von Menschen, die ohne Verurteilung in Speziallagern der sowjetischen Besatzungsmacht bis 1950 festgehalten wurden. Drakonische Strafen sollten das ‘antifaschistische’ Anliegen der DDR sowohl nach innen als auch nach außen unter Beweis stellen. Gleichzeitig sollte damit ein symbolischer Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit gezogen werden. Unter Anwendung des KRG 10 und der Kontrollratsdirektive 38 (KRD 38) sollten nicht nur NS-Verbrecher ausgeschaltet werden, sondern auch Gegner des Aufbaus der DDR zu einem sozialistischen Staat nach stalinistischem Vorbild. Die Verurteilungen erfolgten unter Missachtung elementarer Regeln rechtsstaatlicher und justizförmiger Verfahren.“ (S. 197)
  124. Manukjan, Umgang, S. 173 
  125. Ebd., S. 173 f.
  126. Manukjan, Der Dresdner „Euthanasie“-Prozess, S. 195
  127. Kleinmann: … es war nicht nur die Mauer da zwischen Ost und West, es waren etliche Mauern aufgebaut. Erfahrungen von NS-„Euthanasie“-Gechädigten und Zwangssterilisierten in der DDR und nach 1989/90, in: Ira Spieker (Hg.): Umbrüche. Erfahrungen gesellschaftlichen Wandels nach 1989, Dresden 2019, Sandstein-Verlag, S. 88
  128. Trus, S. 254
  129. Klee, S. 510
  130. Kleinmann, S. 175
  131. Trus, S. 255
  132. Auf Rosemarie Albrechts Abteilung befand sich auch das gehörlose Mädchen Renate Schoder. Sie überlebte dort zwei Monate.
  133. Vgl. Vortrag zu den Landesheilanstalten Stadtroda von Dörte Ernst, Sammlung Lernort Weimar, abrufbar unter www.lernort-weimar.de. Der Vortrag basiert auf Renate Renners bisher unveröffentlichte Dissertation „Zur Geschichte der Thüringer Landesheilanstalten/des Thüringer Landeskrankenhauses Stadtroda 1933 bis 1945 unter Berücksichtigung der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Jena 2004. Ein Exemplar befindet sich in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena.
  134. Manukjan, Umgang, S. 177
  135. Klee, S. 514
  136. Klee, S. 515
  137. Hielschers Unterschrift findet sich unter anderem auf dem Todesvermerk in der Akte zu Karl-Heinz Koch. Der als „schwachsinnig“ diagnostizierte knapp Zweijährige starb zwei Wochen nach Einlieferung nach Stadtroda.
  138. Vgl. Vortrag zu den Landesheilanstalten Stadtroda von Dörte Ernst, Sammlung Lernort Weimar.
  139. Klee, S. 509
  140. Klee, S. 510
  141. Zu diesem bisher unbeachteten Thema sind kaum Quellen verfügbar. Meine Ausführungen stützen sich auf einen Vortrag von Stefan Jehne: Continuity of „Race Hygiene“? Discourses and Practices of Sterilization in the Soviet Occupied Area and the Early GDR 1945–1961, Vortrag am 4.6.2021 auf der Online-Konferenz „Mother, Father, Child, Health. The History of Reproduction“, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=h2iUdJE_xuI&list=PL95WGtaJwqwC6hF6-03GMA4aTnFFQbst4&index=10
  142. Jehne, Vortrag, 7 f.
  143. Zur Position der Kommunistischen Bewegung zur Sterilisation siehe auch Bock, S. 59
  144. Jehne, Vortrag, 12:20 f.
  145. Jehne, Vortrag, 13:20 f.
  146. Jehne nennt z. B. Friedrich Winkler, der an der Universität Rostock zur NS-Zeit Sozialhygiene und „Rassebiologie“ lehrte und an verschiedenen Gesundheitsämtern beschäftigt war. 1949 genehmigte Winkler als Leiter des sächsischen Landesgesundheitsamts in Dresden die Sterilisation der „taubstummen“ Irmgard P. (Vortrag, 13:20 f.). Wenige Wochen später bemühte sich Elfriede Ochsenfahrt um die Genehmigung der Sterilisation von Charlotte T., die ihrem Gutachten zufolge an Schizophrenie litt. Ochsenfahrt wirkte als Ärztin in der Psychiatrischen Landesanstalt Großschweidnitz an den Euthanasiemorden mit (Vortrag, 15:30 f.). Sie war für die Behandlung von u. a. Elli Helm verantwortlich, die 1944 mit Luminal ermordet wurde (siehe https://www.gedenkplaetze.info/biografien/elli-helm).
  147. Jehne, Vortrag, 20:09 f.
  148. Jehne, Vortrag, 20:27. Über die Disziplinierung „dieser Mädchen“ in der DDR gibt ein MDR-Podcast zu den geschlossenen venerologischen Stationen Auskunft. Diese Vorgänge legen eine Kontinuität der Ausgrenzung und Repression sogenannter „Asozialer“ von der NS-Zeit bis in die DDR nahe. Siehe: Diagnose: Unangepasst – Der Albtraum Tripperburg, abrufbar unter https://www.ardaudiothek.de/sendung/diagnose-unangepasst-der-albtraum-tripperburg/13323951/, und https://www.mdr.de/geschichte/ddr/politik-gesellschaft/gesundheit/tripperburg-geschlechtskrankheiten-frauen-misshandlung-sexualisierte-gewalt-100.html 
  149. Manukjan, Umgang, S. 177
  150. Ebd., S. 174
  151. Ebd., S. 178
  152. Vgl. Kleinmann, S. 90
  153. Einen Überblick bietet die Studie von Sylvia Veit von 2021: https://www.uni-kassel.de/uni/aktuelles/sitemap-detail-news/2021/04/22/so-viel-nsdap-vergangenheit-hatte-die-bonner-elite-der-adenauerzeit?cHash=d7bd0b4c7e2231f047494ee1461ece5e. Sie kann online abgerufen werden unter https://kobra.uni-kassel.de/themes/Mirage2/scripts/mozilla-pdf.js/web/viewer.html?file=/bitstream/handle/123456789/12535/RandauszaehlungBRDAdenauerBand16.pdf?sequence=3&isAllowed=y#pagemode=thumbs.
  154. An der Tür des Kieler Amtsgerichts hing 1957 noch ein Schild mit der Aufschrift „Erbgesundheitsgericht“. Vgl. Braun, Herrmann, Unrecht, S. 233 und Horst Illiger: Sprich nicht drüber! Der Lebensweg von Fritz Niemand, Neumünster 2004, Die Brücke Neumünster, S. 104. 

    Dass diese Wiederholung traumatisierender Situationen für die Betroffenen eine psychische Belastung bedeutet, liegt auf der Hand. So sprechen auch sehr viele Betroffene über „seelische Schmerzen“. Vgl. Wolfgang Ayaß: Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus (Sammelrezension), in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 10, Berlin 1992, S. 226–229

  155. Kathrin Braun, Svea Luise Herrmann: „Unrecht zweiter Ordnung: Die Weitergeltung des Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses in der Bundesrepublik“, in: Sonja Begalke, Claudia Fröhlich, Stephan Alexander Glienke (Hg.): Der halbierte Rechtsstaat. Demokratie und Recht in der frühen Bundesrepublik und die Integration von NS-Funktionseliten, Baden-Baden 2015, Nomos, S. 227
  156. Klee, S. 499
  157. Braun, Herrmann, Brokke, Zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, S. 302
  158. Braun, Herrmann, Unrecht, S. 227 f.
  159. Dessen erster Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
  160. Braun, Herrmann, Unrecht, S. 228
  161. Lars Polten: Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Erinnern und Erzählen. Biographische Interviews mit Betroffenen und Angehörigen, Studien zur Volkskunde in Thüringen Bd. 10, Münster 2020, Waxmann, S. 39
  162. Braun, Herrmann, Unrecht, S. 230
  163. Das Argument, die Zwangssterilisationen und Krankenmorde seien nicht spezifisch nationalsozialistisch, wurde auch bei der Bundestagsdebatte 2022 (!) um die Anerkennung dieser Opfergruppe als Opfer des Nationalsozialismus wieder angesprochen. Anders als bisher wurde allerdings weniger auf den eugenisch orientierten Zeitgeist hingewiesen, sondern speziell auf sozialdemokratische und sozialistische Eugeniker, die, so suggeriert der Redebeitrag etwas abenteuerlich, nicht anders verfahren hätten als die Nationalsozialisten und als geistige Ahnen der heutigen Linken und Sozialdemokraten diesen eine entsprechende Schuld aufgeladen hätten. Vgl. Wortprotokoll der 14. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien, Bundestag, Berlin, 26.9.2022, S. 23 f.
  164. Vgl. Braun, Herrmann, Unrecht, S. 226
  165. Bock, S. 259
  166. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 152r
  167. LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 155r
  168. Schreiben von Waldemar Freienstein an die Spruch- und Berufungskammer Gießen vom 10. Februar 1949, S. 3, Entnazifizierungsakte zu Waldemar Freienstein, Sammlung Freienstein/Nielsen
  169. Ebd., S. 4. Den Verweis auf die bloße Pflichterfüllung bringt auch Adolf Eichmann – Organisator der Deportationen jüdischer Menschen in Vernichtungslager – bei seinem Prozess in Jerusalem an. Er beruft sich in seiner Verteidigung sogar auf den Pflichtbegriff Kants, um jede Verantwortung von sich zu weisen, was die Prozessbeobachterin Hannah Arendt später kommentiert mit: „Kein Mensch hat bei Kant das Recht, zu gehorchen.“ S. www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/114/194
  170. Schreiben von Waldemar Freienstein an die Spruch- und Berufungskammer Gießen vom 10. Februar 1949, S. 5
  171. Klee, S. 177
  172. Polten, S. 39, Fn. 50
  173. Der jüngste von ihnen, Helmut Ehrhardt, sollte noch bis in die achtziger Jahre hohe gesundheitspolitische und akademische Positionen bekleiden: Er war im Sachverständigenbeirat für Seelische Gesundheit der WHO sowie im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer, er war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, Landesarzt für Behinderte in Hessen, Präsident der Europäischen Liga für Psychische Hygiene, Mitglied im Bundesgesundheitsrat, 1980 schließlich in die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina berufen. Er starb 1997 als Ehrenmitglied des Weltverbandes für Psychiatrie.
  174. https://dokumen.pub/konzeptgeschichten-zur-marburger-psychiatrie-im-19-und-20-jahrhundert-1nbsped-9783737009959-9783847109952.html
  175. https://www.aerzteblatt.de/archiv/54007/Gesetz-zur-Verhuetung-erbkranken-Nachwuchses-Aechtung-nach-74-Jahren 
  176. Siehe Freiensteins Stellungnahme zu Ida Werners Sterilisationsverfahren
  177. Braun, Herrmann, Unrecht, S. 232 f.
  178. Ebd., S. 224 f.
  179. Wortprotokoll der 14. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien, Bundestag, Berlin, 26.9.2022, S. 20
  180. Margret Hamm, AG Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, fortwährend aktualisierte Zeittafel, abrufbar unter: www.euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de/wp-content/uploads/2018/03/zeittafel-entschaedigungspolitik-2018.pdf