20.02.2025 · Jakob Reinke
Zur Geschichte der Eugenik
Begriffsklärung
Wie so viele Dinge, die wir nicht mit unserer modernen aufgeklärten Welt identifizieren, ist auch die Eugenik ein Produkt unserer Gesellschaft und ihrer Geschichte. Vertreter*innen der Eugenik, auch „Erbgesundheitslehre“ genannt, beschäftigen sich mit der politisch-gesellschaftlichen Anwendung humangenetischer Konzepte. „Positive“ Erbanlagen sollen gefördert, „negative“ verringert werden. Wie passt dieses Konzept in unsere Welt?
Wir erfreuen uns eines noch nie zuvor gekannten Maßes an Freiheit und Selbstbestimmung für jeden Einzelnen – stehen aber auch unter neuen Zwängen. Im Rahmen unseres „freien Glücksstrebens“ herrscht letztlich ein allgemeiner Konkurrenzkampf bei ungleich verteilten Ausgangsbedingungen: Unternehmen konkurrieren beim Preis des Untergangs auf dem Markt. Und genau das müssen auch wir alle auf dem Arbeitsmarkt tun. Wer auf der Strecke bleibt, gilt als „schwach“.1 Wenn unser Leben auch durch Moral geprägt und durch Gesetze geregelt ist, so ist es eben doch auch durch das vermeintliche Recht des Stärkeren bestimmt. Findet sich genau dies als offen begrüßtes Handlungs- und Bewertungsprinzip menschlichen Zusammenseins, so spricht man von Sozialdarwinismus. In diesem grundfalschen, da von vermeintlichen ökonomischen Zwängen hergeleiteten Rahmen, werden Menschen, welche krank oder beeinträchtigt sind, als „unnötiger Ballast“ angesehen. Gepaart mit der irrigen Annahme, dass soziale oder psychische Auffälligkeiten immer biologisch verursacht seien und nicht – wie in vielen Fällen – durch Sozialisation, kamen seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr Ideen auf, diese Menschen an der Fortpflanzung zu hindern oder im schlimmsten Fall sogar zu töten.
Das erste Gesetz zur Zwangssterilisierung wurde 1907 im US-Bundesstaat Indiana erlassen – 32 Bundesstaaten folgten. Ab 1929 wurden solche Gesetze in Dänemark verabschiedet, ab 1934 in Schweden, wo entsprechende Praktiken noch bis 1976 umgesetzt wurden. Eng verwoben mit den menschenverachtenden Praktiken der Eugenikverbrechen ist das Regime des Nationalsozialismus – nicht zuletzt deshalb, weil hier ein zuvor nicht gekanntes Ausmaß an Unmenschlichkeit erreicht wurde: Zu den etwa 400.000 Zwangssterilisierungen kamen ca. 300.000 Morde hinzu, die die Nationalsozialisten euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichneten.
Leider sind Sozialdarwinismus und eugenisches Denken keineswegs nur Themen der Vergangenheit. Der Thüringen-Monitor belegt, dass diese Denkweisen nach wie vor weit verbreitet sind. So haben in den letzten Jahren zwischen 16 und 22 Prozent der Befragten der Aussage „Wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen“ zugestimmt. Zwischen 17 und 25 Prozent haben der Aussage „Es gibt wertvolles und unwertes Leben“ zugestimmt.2
Hintergründe der Eugenik
Eugenik ist nur vor dem Hintergrund ideengeschichtlicher und sozialer Entwicklungen seit der Neuzeit zu begreifen. Historisch wachsende soziale Unsicherheiten sowie koloniale Ausbeutungspraktiken werden zunehmend in einem Raster der Wertigkeit von Menschen verarbeitet bzw. legitimiert. Letztlich kann die Eugenik nur im Zusammenhang mit Rassismus und Antisemitismus verstanden werden. Ein wachsender sozioökonomischer Konkurrenzkampf führt zur Selbstberuhigungsstrategien, von Natur aus etwas Besseres zu sein als vermeintlich minderwertige „Rassen“, kranke oder beeinträchtigte Menschen. Zugleich wird die Schuld an den sozioökonomischen Problemen auf verschwörungsmythische Weise meistens jüdischen Menschen zugeschrieben.
Antisemitismus und Rassismus
Die Ursprünge von Sozialdarwinismus und Eugenik hängen untrennbar mit der Entstehung von Rassismus und modernem Antisemitismus zusammen. Der Antisemitismus entstand im 19. Jahrhundert mit der Bildung europäischer Nationalstaaten, basiert aber auf dem jahrhundertealten christlichen Antijudaismus. Schon vor vielen Jahrhunderten wurden Juden für alle schwer greifbaren Übel verantwortlich gemacht: Sie sollten die Pest verursacht haben und angeblich christliche Kinder für religiöse Rituale töten.

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Im 19. Jahrhundert hieß es, sie hätten den Kapitalismus erfunden und kontrollierten das Weltwirtschaftssystem. Durch die Jahrhunderte hindurch und bis in die heutige Zeit hinein herrscht ein konstant negativer Umgang mit Juden und Jüdinnen: aus einer feindlich gesinnten Perspektive heraus werden sie für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht.3

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Im Mittelalter wurden Juden von den Mehrheitsgesellschaften noch als Religionsgemeinschaft begriffen. Entsprechend stand ihnen der Weg der Konversion offen, um ein verfolgungsfreies Leben führen zu können. Doch im Spanien des 13. Jahrhunderts kamen Zweifel an der Ehrlichkeit der Konvertiten auf und einige Menschen begannen, die jüdischen Menschen zugeschriebenen negativen Eigenschaften als eine Frage des „Blutes“ zu begreifen – im Rahmen eines antijüdischen Denkens war die rassistische Idee der „Reinheit des Blutes“ geboren.4
Aus dem Antijudaismus bildete sich einige Jahrhunderte später der Antisemitismus heraus, der eine starke politische Dimension und einen engen Bezug zur sich nun ausformulierenden Rassenideologie aufweist. Antisemitismus ist daher mehr als der bloße „Hass“ auf Juden und lässt sich auch nicht einfach mit anderen Formen der Diskriminierung gleichsetzen.
Am Ende des Mittelalters nahm mit dem Aufkommen des Handelskapitalismus die Geschichte des Kapitalismus ihren Anfang. Auch die Anfänge des Kolonialismus wurzelten hierin. Was zum Teil noch heutzutage als „Zeitalter der Entdeckungen“ schöngeredet wird und dann über die Epoche des Imperialismus hinaus weit bis ins 20. Jahrhundert reicht, war nichts anderes als die Unterwerfung der Welt unter ökonomische und machtpolitische Herrschaftsbestrebungen europäischer Länder (später auch Japans). Diese menschenverachtenden Praktiken wurden von den Akteuren nie wirklich in Frage gestellt. Anfänglich war ihre Denk- und Handelsweise vor allem durch einen christlich geprägten Zivilisationsdünkel charakterisiert, während sie sich mit dem Siegeszug des naturwissenschaftlichen Denkens aber mehr und mehr „rassenbiologisch“ legitimierten.5 Dieser Einstellung zufolge wird die Welt von verschiedenen menschlichen Rassen bevölkert, die sich anhand biologischer bzw. genetischer Merkmale unterscheiden. Darüber hinaus werden diesen „Rassen“ negative Wertigkeiten zugesprochen und eine angeblich wissenschaftlich fundierte Hierarchie etabliert, in der die weißen Europäer an der Spitze stehen und als die „wertvollste“ Rasse gelten.

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Allgemeiner Konkurrenzkampf, Ableismus und Rassismus
Rassistisches Gedankengut lieferte auch eine psychologische und moralische Rechtfertigungsstrategie für die Menschen in Europa, die zunehmend in einen sozioökonomischen Wettbewerb gedrängt wurden. Der Grundlagen für eine selbstversorgende Wirtschaft beraubt, waren die Menschen im Kapitalismus gezwungen, auf dem Arbeitsmarkt gegen andere zu bestehen. Der Mitmensch wurde zum Konkurrenten6 und die Bedingungen des Wettbewerbs wurden zunehmend menschenunwürdig. Das wirtschaftliche Ziel war nicht, einer Mehrheit ein angenehmes Leben zu ermöglichen, sondern lediglich ihre Arbeitsfähigkeit bei größtmöglicher Steigerung des Profites zu erhalten. Unter diesen Bedingungen trat eine weitreichende Verelendung ein. Arbeit und Arbeitsfähigkeit wurden existenziell und zu eigenständigen Werten erhoben.
Wer nicht genug leisten konnte und sich in diesem Kampf nicht behauptete, schien nichts wert zu sein.7 Spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert zeigte sich ein sozialpsychologischer Abwehrmechanismus, der vielen Menschen half, den hohen psychischen Stress zu ertragen, den der allgemeine ökonomische Konkurrenzkampf mit sich brachte. Die Angst, auf dem Arbeitsmarkt wertlos zu sein, keine zahlungsfähige Nachfrage für die eigene Arbeitskraft zu finden und somit als nutzloser Körper der Willkür scheinbar mächtigerer Kapitalisten ausgeliefert zu sein, spiegelte die reale Situation von Menschen wider, die vom Rassismus betroffen waren, insbesondere der Versklavten.

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Die unbewusste Abspaltung dieser realen sozialen Gefahr und ihre Projektion auf Angehörige vermeintlich „minderer“ Rassen hatte zwei psychisch entlastende Effekte: erstens die Entledigung von der Angst vor dem sozialen Untergang und zweitens die Selbsterhöhung durch die Zugehörigkeit zu einer vorgeblich von Natur aus „höherwertigen Rasse“ – was auch immer sozial geschah, dies konnte dem Betroffenen niemals genommen werden. Das Schreckbild, von Geburt aus, aus gesundheitlichen Gründen oder Ähnlichem gar nicht erst in den Konkurrenzkampf eintreten zu können, wird im sogenannten Ableismus abgewehrt. Der Ableismus zeigt sich in der hasserfüllten Verachtung oder Diskriminierung geistig oder körperlich beeinträchtigter Menschen8 und basiert ebenfalls auf den psychischen Mechanismen der Projektion. Ermöglicht werden diese psychischen Abwehrmechanismen durch die irrige Vorstellung, von Natur aus etwas Besseres und Überlegenes zu sein – eben ein gesundes Exemplar einer höheren Rasse. So nimmt es kaum Wunder, dass sich die meisten Rassisten als Angehörige der angeblich höchsten ,Rasse‘ der ,Weißen‘ oder ,Arier‘ verstehen.9 Infolgedessen sind derart Denkende stets vor dem kompletten Verlust des Selbstwertes geschützt (ganz analog dazu funktioniert auch die Ideologie des Nationalismus10). Zugleich befördern diese Denkmuster unweigerlich ein rücksichtsloses Verhalten gegenüber den Mitmenschen – das vermeintliche Recht des Stärkeren durchzusetzen wird geradezu zu einer biologisch verbrieften Tugend.11 Wir kennen diese Ideologie als Sozialdarwinismus.12
Von staatlicher Seite treten im kapitalistischen Sinn nicht produktive Menschen vor allem als Problem auf. Einerseits bedarf die kapitalistisch organisierte Wirtschaft einer „industriellen Reservearmee“ von Arbeitslosen, um bei Konjunkturaufschwüngen von ihnen Gebrauch machen zu können, andererseits gelten diejenigen Menschen, die per se als nicht arbeitsfähig eingestuft werden, als ein ökonomisches und soziales Problem.
Zugleich haben die sozialen Systeme, die bis dato Menschen aufgefangen hatten, die ökonomisch nicht für sich selbst sorgen konnten, zu diesem Zeitpunkt längst ihre soziale Auffangfunktion verloren: Statt die Fürsorge innerhalb von Großfamilien, Dorfgemeinschaften oder Kirchgemeinschaften zu erhalten, waren Hilfsbedürftige nun mit Anonymität und Isolation konfrontiert, so dass sie schließlich auf staatliche Unterstützung angewiesen waren.
Gesundheitspolitik mit Schwerpunkt Deutsches Reich im 19./20. Jahrhundert
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist die Geschichte der Eugenik in Deutschland vor allem durch zwei Tendenzen geprägt. Zum einen findet eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Eugenik statt, die sich rückblickend als pseudowissenschaftlich erweist und aufs engste mit der Entstehung des sogenannten Sozialdarwinismus zusammenhängt. Zum anderen wird Eugenik mehr und mehr institutionalisiert und damit Teil des staatlichen Handelns.
Die sozialdarwinistische Konstellation
Der Hintergrund, vor dem sich rassistische und ableistische Denk- und Verhaltensweisen überhaupt erst so stark verbreiten und durchsetzen konnten, ist der Siegeszug der modernen Naturwissenschaften, der zeitgleich mit der Etablierung des modernen Kapitalismus erfolgte. Die Naturwissenschaften, die sich grundsätzlich jeglicher Werturteile enthalten, sollten nun Beweise für die „hohe“ oder „mindere Wertigkeit“ von Menschen liefern. Dieser Missbrauch der Naturwissenschaften gründet sich in den bereits thematisierten sozialpsychologischen Mechanismen.
Eine fatale und folgenreiche Entwicklung in dieser Ideengeschichte wurde durch den französischen Psychiater Bénedicte Augustin Morel (1809–1873) angestoßen.

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Unter dem Titel „Degenerationslehre“ verbreitete er die Idee, dass „schädliche Umwelteinflüsse und negative erbliche Anlagen einen von Generation zu Generation sich verschlimmernden, letztlich irreversiblen Niedergang“13 bewirken würden. Die enorme Wirkmächtigkeit dieser Pseudotheorie verursachte unmissverständlich einen enormen biopolitischen Handlungsdruck für den Staat.
Auch das rassistische Denken differenzierte sich immer mehr aus und konnte sich zunehmend etablieren. Hierfür steht der französische Autor Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) mit seinem vierbändigen Werk Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen (1863–1865), in dem er versucht die vermeintliche Überlegenheit einer angeblichen „arischen Rasse“ zu beweisen.14 Sein Werk wurde in Deutschland breit rezipiert.15

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Eine der wichtigsten wissenschaftlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts war die Evolutionstheorie Charles Darwins (1809–1882), welche sich ausschließlich auf das „Reich der Natur“ bezog und nicht auf die menschliche Gesellschaft. Diese Theorie wurde von Pseudowissenschaftlern, welche das Konkurrenzprinzip der bürgerlichen Gesellschaft zutiefst verinnerlicht hatten, auf gleichermaßen falsche wie fatale Weise aufgenommen. Unter dem Namen Sozialdarwinismus gelangten pseudowissenschaftliche Theorien zu trauriger Berühmtheit, welche beispielsweise den durch Herbert Spencer in die evolutionsbiologischen Debatten eingebrachten Begriff des survival of the fittest auf die menschliche Gesellschaft übertrugen. Als problematisch wurde von Sozialdarwinisten angesehen, dass der Mensch sich Strukturen des Zusammenlebens geschaffen hat, die vermeintlich nicht den evolutionären Gesetzen unterworfen sind. Die sozialdarwinistische Interpretation der Evolutionstheorie krankte zudem an einer einseitigen Begriffsdeutung: „fit“ bzw. „fittest“ wurde nicht im Sinne von „Anpassung“ begriffen, sondern von „Stärke“. Hinzu kommt, dass Spencers wertfrei beschreibendes Diktum vom survival of the fittest normativ – also vorschreibend und handlungsleitend – aufgefasst wurde: Der Stärkere überlebe nicht einfach, er erhebe sich so über die Schwächeren und er habe natürlicherweise das Recht dazu.
Zum Begriff des Sozialdarwinismus
Der Begriff des Sozialdarwinismus ist in der Forschung umstritten und es ist unklar, welche Personen als Sozialdarwinisten zu bezeichnen sind – zumal der Terminus zumeist als kritische Fremdzuschreibung Verwendung gefunden hat. Hinsichtlich des Verständnisses ideen- und sozialgeschichtlicher Zusammenhänge erweist sich der Begriff jedoch als unverzichtbar. Er soll hier also weniger als Bezeichnung einer bestimmten Personengruppe dienen, sondern vielmehr auf eine bestimmte sozialpsychologische und ideengeschichtliche Konstellation hinweisen. In dieser sollten mittels eines radikalisierten Konkurrenzkampfdenkens innerhalb von Gesellschaften und zwischen Nationalstaaten bzw. angeblichen „Rassen“ reale oder vermeintliche gesellschaftliche Probleme erklärt werden. Eine pseudowissenschaftliche Adaption evolutionstheoretischer Überlegungen lieferte die Rechtfertigung für dieses Vorgehen. Dies hat sich in kaum einem Land so radikal ausgeprägt, wie in Deutschland.
Vordenker einer durch sozialdarwinistisches Gedankengut geleiteten Eugenik waren in Deutschland unter anderen der „Rassenhygieniker“ Wilhelm Schallmayer (1857–1919) mit seinem Buch Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker (1903) und Alfred Ploetz (1860–1911) mit seinem Buch Über die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen.16

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Ihre Ideen waren zutiefst mit einem rassistisch gefärbten nationalistischen Begriff sogenannter „deutscher Wissenschaft“ verbunden. Was international unter dem Begriff „Eugenik“ verhandelt wurde, diskutierte und betrieb man in Deutschland in radikalisierter Form unter dem Titel der sogenannten „Rassenhygiene“. So beschrieb Alfred Plötz in seinem Buch eine von rassehygienischen Ideen geleitete Gesellschaft:
„[...] Stellt sich trotzdem heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Ärzte-Kollegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dose Morphium. Die Eltern, erzogen in strenger Achtung vor dem Wohl der Rasse, überlassen sich nicht lange rebellischen Gefühlen, sondern versuchen frisch und fröhlich ein zweites Mal, wenn ihnen dies nach ihrem Zeugnis der Fortpflanzungsbefähigung erlaubt ist. [...]
Besonders für Dinge wie Krankheits- und Arbeitslosen-Versicherung, wie die Hülfe des Arztes, hauptsächlich des Geburtshelfers, wird der strenge Rassenhygieniker nur ein missbilligendes Achselzucken haben. Der Kampf ums Dasein muss in seiner vollen Schärfe erhalten bleiben, wenn wir uns rasch vervollkommnen sollen [...].“17
Eugenik im Deutschen Kaiserreich
Fatalerweise wurde dieses Denken zunehmend leitend für das staatliche Handeln. Armin Trus ordnet diese Entwicklungen ins weltpolitische Geschehen ein und erklärt sie in folgenden Worten:
„Gefördert wurde diese Entwicklung durch die bevölkerungspolitische Diskussion im Zeichen der weltmachtpolitischen Ambitionen des Deutschen Reiches. Wenn man sich im internationalen Ringen der Nationen behaupten wollte, mussten nach landläufiger Auffassung geeignete Maßnahmen zur Steigerung der Quantität sowie der Qualität der Bevölkerung getroffen werden. (…) Den Gesellschaftsplanern, die die Nation als eine umfassende Leistungsgemeinschaft verstanden, war klar, dass sich auf keinen Fall die ,Falschen‘ vermehren sollten.“18
Zur bereits beschriebenen pseudowissenschaftlichen Rechtfertigung eugenischer bevölkerungspolitischer Maßnahmen kam nun eine politische Bereitschaft hinzu, diese Maßnahmen zu ergreifen.
Eine breite öffentliche Diskussion und langsame Etablierung eugenischer Ideen begannen in Deutschland spätestens, seitdem Wilhelm Schallmayer (1857–1919) 1900 ein Preisausschreiben des Industriellen Friedrich Krupp mit eugenischer Aufgabenstellung gewann. Den Preis erhielt Schallmayer für seinen Aufsatz Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neuen Biologie.
1905 gründete Alfred Ploetz in Berlin die Gesellschaft für Rassenhygiene. Seit 1908 fungierte diese zugleich als deutsche Landesgruppe der britischen Eugenics Education Society. Neben anderen Formen der Öffentlichkeitswirksamkeit erlangte insbesondere das Auftreten der Gesellschaft für Rassenhygiene auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 große öffentliche Aufmerksamkeit und gelangte zu wachsendem Einfluss in Medizin und Kriminologie. Im Zuge des Ersten Weltkrieges sah dieser Kreis seine Ideen besonders bestätigt. Bis Ende des Krieges blieb die inzwischen zu Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene umbenannte Vereinigung deutlich durch völkische Anhänger der sogenannten „Rassenhygiene“ geprägt, wie das lebende Beispiel Alfred Ploetz zeigte.

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1927 wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Erblehre und Eugenik in Berlin gegründet. Gedanklich und institutionell war nun der Weg bereitet, „unproduktive“ Menschen pseudowissenschaftlich legitimiert auszusondern. Als Begründungen dieser Unterscheidung und Ausgrenzung wurden von Rassenhygienikern unterschiedliche Aspekte angeführt: Zum einen sollten finanzielle Belastungen minimiert, zum anderen im Konkurrenzkampf der Staaten durch rassistische Menschenzucht vermeintliche Vorteile erlangt werden. Eine Welt, in der der Mensch als Subjekt und zu achtendes Wesen betrachtet wird, wurde hier bereits verneint.
Eugenik im Nationalsozialismus
Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wurde der rassistisch motivierte Umbau der Gesellschaft zu einer angeblich „arischen“ Volksgemeinschaft Teil der Staatsräson. Angetrieben wurde dieses Handeln von dem Mythos einer vorgeblich jüdischen Weltverschwörung und eines entsprechend herbeiphantasierten Endkampfs um die Weltherrschaft. Im Zuge dessen erreichten neben antisemitisch und rassistisch motivierten Massenverbrechen auch eugenisch motivierte Untaten ein historisch präzedenzloses Ausmaß.
Gesellschaftliche und legislative Grundlagen
Eugenisches Gedankengut führte unter der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland zu Verbrechen ungeahnten Ausmaßes. Warum aber ist es ausgerechnet in Deutschland so weit gekommen, wo doch die Ideologie der Eugenik ein geradezu globales Phänomen gewesen ist?
Die Entstehung des Nationalstaates und der Ideologie des Nationalismus hat in den Gebieten des späteren Deutschen Reichs eine besondere Ausprägung erhalten. Hier wurde die Frage, wer aus welchem Grund zur deutschen Nation gehörte, über Abstammung, Kultur und Sprache beantwortet. Damit wehrten die Deutschen die Ideale der Französischen Revolution ab, welche auf dem Wahlspruch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und den Idealen der Aufklärung basierten und idealtypisch in der Nationalisierung der Bevölkerung durch ein kollektives Bekenntnis zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gipfelten.

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Im Gegensatz dazu hatte die deutsche Nationswerdung also von Beginn an eine ethnische Komponente inne und war damit latent völkisch und irrational geprägt. Zugleich wurden diese „westlichen“ Ideen als „jüdisch“ abgelehnt.20 So wundert es nicht, dass Studenten beim Wartburgfest 1817 auch entsprechend wahrgenommene Schriften öffentlich verbrannten. Erschwerend kam die Tatsache hinzu, dass Deutschland als „verspätete Nation“21, die sich lange vor allem mit sich selbst beschäftigte und im kolonialen Wettlauf um einen „Platz an der Sonne“ ins Hintertreffen geraten war, enormem Handlungsdruck ausgesetzt war, auf internationaler Ebene „aufzuholen“. Das gekränkte Nationalbewusstsein, welches aus der Tatsache resultierte, dass ausgerechnet seitens Deutschland verachtete Nationen wie die Franzosen mehr Erfolg hatten, sowie die Gewöhnung an sanktionsfreie Gewaltausübung im Kolonialkontext waren sicherlich Faktoren, eine besondere Härte gegen sich selbst und gegen die eigene Bevölkerung walten zu lassen. Ein so befeuerter Chauvinismus bildete einen sozialpsychologischen Nährboden, welcher es massiv begünstigte, sozialdarwinistische und „eugenische“ Ideen radikal praktisch werden zu lassen.22
Im Nationalsozialismus wurde die antisemitische Wahnvorstellung von einer angeblich „jüdischen Weltverschwörung“ dann auf die Spitze getrieben und das Schreckbild eines Endkampfes zwischen „Ariern“ und „Juden“ gezeichnet. Die kapitalistische Arbeitsideologie, in welcher der Wert eines Menschen über seine Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit bestimmt ist, wurde hier in einen herbeiphantasierten Rassenkampf verlängert, welcher durch die nationalsozialistische Praxis zur Realität wurde.

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Aus dieser wahnhaften Vorstellungswelt heraus war es gewissermaßen „folgerichtig“, radikal alles aus dem Weg zu schaffen, was den „arischen Volkskörper“ schwächen konnte.23 Aus Sicht der Nazi-Elite durfte niemand „unnötiger Ballast“ sein, wenn sich die sogenannte Volksgemeinschaft in kollektivem Arbeitswahn auf den vermeintlichen „Endkampf“ gegen das „Weltjudentum“ vorbereiten bzw. ihn unterstützen musste. Dies war das Einfallstor, durch das eugenisches Denken in einem bis dato nicht gekannten Ausmaß leitend für staatliches Handeln wurde.
Konkrete „eugenische“ Maßnahmen
Bis zum offenen Massenmord an kranken Menschen war es nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch ein weiter Weg.24 Die Umsetzung eugenischer Maßnahmen durch die Politik begann allerdings schon bald. Hierbei sind Maßnahmen sogenannter „positiver Eugenik“ von denen sogenannter „negativer Eugenik“ zu unterscheiden. „Positive Eugenik“ meint hier alle Methoden, die die Verbreitung von als positiv bewerteten Erbgutes in der Bevölkerung befördern, wohingegen „negative Eugenik“ diejenigen Verfahren umfasst, welche die Verbreitung desjenigen Erbgutes, welches als negativ bewertet wird, verhindern.
Maßnahmen „positiver Eugenik“
Als eine der ersten Maßnahmen der „positiven Eugenik“ kann das im Sommer 1933 eingeführte „Ehestandsdarlehen“ gelten. Neben dem erklärten Ziel, die Geburtenrate zu erhöhen, diente dieses Instrument des NS-Staates dazu, Frauen dem Arbeitsmarkt zu entziehen, um diesen zu entlasten. Die Gewährung eines „Ehestandsdarlehens zur Förderung von Eheschließungen“ galt nur für Frauen, die zuvor berufstätig waren und ihre Erwerbstätigkeit mit der Eheschließung aufgaben. Die Aufnahme einer Lohnarbeit war ihnen für die Laufzeit des Darlehens und so lange verboten, wie der erwerbstätige Ehegatte einen Mindestlohn erhielt.25 In einer Ersten Durchführungsverordnung26 wurden Personen ausgeschlossen, die nicht im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte waren oder nach deren politischer Einstellung Zweifel bestanden, dass sie sich „jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat“ einsetzten. Die Darlehen wurden nicht zugebilligt, wenn eine Eheschließung aus „erbbiologischen“ Gründen angeblich nicht „im Interesse der Volksgemeinschaft“ lag.27 Eine Zweite Durchführungsverordnung28 schrieb dafür eine ärztliche Begutachtung vor. „Nichtarier“ wurden – ohne dass dies im Reichsgesetzesblatt veröffentlicht wurde – durch „Erläuterungen“ für die Verwaltungspraxis vom März 1934 ausgeschlossen.29 Für jedes lebend geborene Kind wurden 25 Prozent der Darlehenssumme erlassen. Es war entsprechend auch die Rede davon, diese Darlehen „abzukindern“.30
Im Zuge des durch die Aufrüstungspolitik bewirkten Arbeitskräftemangels wurde das Lohnarbeitsverbot für die Frauen der darlehensnehmenden Ehepaare sehr früh sukzessive zurückgenommen. Alles in allem war der Maßnahme der Ehestandsdarlehen wenig Erfolg im Sinn der Nationalsozialisten beschieden. Gisela Bock resümiert:
„Ebensowenig wie die Darlehen häufige Geburten bewirkten, ebensowenig wurde dort, wo häufig geboren wurde, wegen des Darlehens geboren. Die höchste Kinderzahl pro Ehe hatten – jedenfalls in großen Städten – nicht die Darlehensehen, sondern Paare, deren Bewerbung um ein Darlehen abgelehnt worden war: kinderreiche, unerwünschte und oft als ‚asozial‘ eingestufte Unterschichtenfamilien, deren Kinder ihrer ‚Hemmungs- und Verantwortungslosigkeit‘ zugeschrieben wurden.“31
Neben dieser sehr konkret eingreifenden Maßnahme der Ehestandsdarlehen versuchte das NS-Regime auch auf propagandistischer und symbolischer Ebene im Sinne „positiver Eugenik“ zu wirken.
So haben die Nationalsozialisten bereits 1933 den „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ zum öffentlichen Feiertag erklärt und im Jahr 1934 erstmalig offiziell begangen. Am 16. Dezember 1938 stiftete Adolf Hitler per Verordnung das sogenannte Ehrenkreuz der Deutschen Mutter, welches bei den religiös anmutenden Feierlichkeiten des Muttertages verliehen wurde. Das „Mutterkreuz“ wurde lediglich an „deutschblütige“ und „erbtüchtige“ Mütter für die Anzahl lebend geborener Kinder verliehen. Das „Mutterkreuz“ kam in drei Varianten, „Bronze“, „Silber“ und „Gold“ vor und wurde entsprechen gestaffelt für eine Kinderzahl von vier bis acht und aufwärts verliehen.

Am 12. Dezember 1935 wurde auf Veranlassung Heinrich Himmlers, des sogenannten Reichsführers SS, in Berlin der Verein Lebensborn gegründet.32 Der Verein hatte zum Ziel, ein „arisches“ Bevölkerungswachstum zu befördern, indem unverheiratete Frauen und Mädchen durch das Anbieten anonymer Entbindungen und die anschließende Vermittlung der unehelichen Kinder zur Adoption – bevorzugt an Familien von SS-Angehörigen – von einem Schwangerschaftsabbruch abgehalten werden sollten. Himmler wurde bei der Konzeption dieser Einrichtung von Otmar Freiherr von Verschuer beraten. Die Organisation war als eingetragener Verein rechtlich selbständig. Organisatorisch blieb der Verein aber der SS unterstellt. Ihr Präsident war wiederum Heinrich Himmler. Finanziert wurde die Organisation durch Zwangsbeiträge der SS-Angehörigen. Kinderlose hatten die höchste Abgabe zu entrichten, ab vier Kindern, egal ob ehelich oder unehelich, endete die Beitragspflicht. Diese Maßnahme sollte SS-Angehörige motivieren, ihren „völkischen Verpflichtungen“ im Sinne der Zeugung von Nachwuchs nachzukommen.

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Auf Basis der Anordnung 67/1 Heinrich Himmlers vom 19. Februar 1942 war der Lebensborn für die Verschleppung von Kindern aus besetzten Gebieten verantwortlich, die als „arisch“ eingestuft wurden. Sie sollten in parteitreue Familien eingegliedert und damit einer NS-konformen Erziehung zugeführt und folglich „eingedeutscht“ werden.33 Diese Praxis ist eindeutig als die radikalste Form „positiver Eugenik“ anzusehen und sie belegt, dass keineswegs nur „negative Eugenik“ die Qualität von Verbrechen erreichen kann.
Maßnahmen „negativer Eugenik“
Bereits am 14. Juli 1933 wurde das sogenannte „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, welches die rechtliche Grundlage für Zwangssterilisierungen in rund 400.000 Fällen bildete. Der Entwurf des Gesetzes stammt in großen Teilen bereits aus dem Jahr 1932 und wurde am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin erarbeitet. Seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1934 folgte eine Welle an Zwangssterilisationen, die die Amtsärzte und Beisitzer der neu eingerichteten „Erbgesundheitsgerichte“ besonders in den ersten beiden Jahren in zahlreichen Überstunden antrieben.

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1935 fand das Gesetz bereits eine Erweiterung. Zum einen wurde das Sterilisationsgesetz zu einem Abtreibungsgesetz erweitert. Bei Abtreibungen, die „rassenhygienisch“ motiviert waren oder bei medizinischer Indikation wurde den Betroffenen Straffreiheit zugesichert und bei „erbkranken“ Schwangeren die Sterilisation mit einer Abtreibung verbunden.34
Die Sterilisationsverfahren wurden durch Gutachten sogenannter Erbgesundheitsgerichte, welche einem Amtsgericht angegliedert waren, legalisiert. In die Wege geleitet wurden die Verfahren durch Anträge von Seiten der Amtsärzte oder Anstaltsleiter. Auch die Betroffenen selbst oder ihre Vormünder konnten die Anträge stellen, was allerdings weitaus seltener geschah.
Mit sich steigerndem antisemitischem Verfolgungswahn und der kollektiven Gewalterfahrung und damit einhergehender wachsender Gewaltbereitschaft bzw. Gewalttoleranz radikalisierte sich auch das eugenische Denken sowie Handeln der Nationalsozialisten. Der Wille zu einer „innerrassischen Reinigung“ und ein menschenverachtend zweckrationales Kosteneinsparungsregime angesichts eines höchst kostenintensiven Kriegs waren weitere Begleitphänomene dieser praktizierten inhumanen Rassenpolitik.
Der erste Schritt zum direkten Mord wurde durch die persönliche Anordnung eines Falles von „Euthanasie“ durch Hitler – bekannt und in der Forschung kontrovers diskutiert unter dem Namen Fall K – gegangen. Dies eröffnete die Phase der sogenannten „Kinder-Euthanasie“, die bis zum Kriegsende 1945 reichte. Eröffnet und ermöglicht wurde diese Phase des Massenverbrechens durch den Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18. August 1939 Az.: IVb 3088/39 – 1079. Auf Basis dieses Erlasses wurden Ärzte und Hebammen sowie Entbindungsanstalten, geburtshilfliche Abteilungen und Kinderkrankenhäuser – soweit dort ein leitender Arzt nicht vorhanden oder an der Meldung verhindert war – verpflichtet, formblattmäßige Mitteilung an das zuständige Gesundheitsamt zu machen,
„falls das neugeborene Kind verdächtig ist mit folgenden schweren angeborenen Leiden behaftet zu sein:
1. Idiotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind),
2. Mikrocephalie,
3. Hydrocephalus, schweren bzw. fortschreitenden Grades,
4. Mißbildungen jeder Art, besonders Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw.,
5. Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung.“35
Die Kinder, die nach diesem „rassehygienischen“ Raster selektiert wurden, wurden in angebliche Heime verschleppt, welche de facto die ersten Eugenik-Mordstätten des NS-Regimes waren. Ihre Eltern wurden über die Gründe der Aufnahme in diesen „Heimen“ getäuscht. Die Zahl der Opfer im Kindesalter belaufen sich zwischen 5.000 und 10.000.36

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Im Rahmen der sogenannten „Aktion T4“37 wurden die Anstalten in Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar alsbald auf Basis des Runderlasses des Reichsministeriums des Innern vom 9. Oktober 1939 zu Tatorten des Massenmordes an kranken und als „lebensunwert“ erachteten Menschen jedweden Alters. Der Runderlass beinhaltete eine Meldepflicht für Anstalten. Diese sollten ihre Patienten mit bestimmten Krankheiten, aber auch sogenannte „kriminelle Geisteskranke“, Menschen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen oder sich schon länger als fünf Jahre in der Anstalt aufhielten, melden. In der T4-Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 wurde dann von Gutachtern darüber entschieden, ob diese Menschen in einer der Tötungsanstalten ermordet werden sollten.

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Nachdem vor allem kirchlich getragene Proteste zu einer erhöhten Form von Geheimhaltung geführt hatten, wurde das „Euthanasie“-Programm keineswegs zurückgefahren, sondern u. a. in der sogenannten „Aktion 14f13“ weitergeführt und auf das System der Konzentrationslager ausgeweitet. Ärzte der SS bereisten die Lager und sortierten in „Kürzestuntersuchungen“ die nicht mehr „Arbeitsfähigen“ aus, welche daraufhin in den „Euthanasie“-Tötungsanstalten ermordet wurden.38
Das Personal, welches im Rahmen der „Aktion T4“ den Gasmord an Kranken und Beeinträchtigten entwickelt hatte, wurde später für den Massenmord an den europäischen Juden mittels Giftgas in den Vernichtungslagern eingesetzt. Diese „Fachkräfte“ übertrugen die für die „Euthanasie“-Verbrechen entwickelten Mordmethoden auf den antisemitisch motivierten Genozid.39
Eugenik nach 1945
Für die Zeit nach dem Kriegsende stellen sich zwei Fragen: Wie wurde mit den Eugenikverbrechen der Nazizeit umgegangen? Und wie wurde nun mit denjenigen Menschen umgegangen, die während der Nazizeit ins eugenische Verfolgungsraster gefallen wären?
Was den Umgang mit kranken Menschen und die entsprechenden Institutionen anbelangt, lässt sich mit Armin Trus klar sagen:
„Weder in der deutschen Medizin noch in der Politik existierten Kräfte, die willens und auch fähig gewesen wären, einen radikalen Schlussstrich zu ziehen und einen Neuanfang zu wagen. Dazu hätte es einer tieferen Einsicht in die Geschehnisse und ihrer Entstehungsbedingungen bedurft. Doch das war den dem eugenischen Minderwertigkeitsdenken noch lange Zeit verhafteten Politikern und Ärzten nicht möglich.“40
Nichtsdestotrotz wurde die eugenische Praxis nach der deutschen Kriegsniederlage aufgrund der Präsenz der alliierten Besatzungsmächte deutlich eingeschränkt, insbesondere wurde das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses durch das Office of Military Government zunächst suspendiert. Erst 1986, 41 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde es durch das Amtsgericht Kiel als grundgesetzwidrig beurteilt.
Im Rahmen der Entnazifizierungspolitik gab es in allen Besatzungszonen Strafprozesse und zumindest zeitweilige Entziehungen von Approbationen. So galt beispielsweise rund ein Drittel der Ärzte in der Sowjetischen Besatzungszone – zum Teil schlichtweg aufgrund ihrer NSDAP-Mitgliedschaften – als „belastet“ und mussten sich einem Verfahren stellen. Mit der Übergabe der „Entnazifizierungspolitik“ der Alliierten in die Hände der Deutschen nahm die Schärfe der juristischen Verbrechensverfolgung rasch stark ab, so Trus:
„Allerdings wurde in allen Besatzungszonen das zunächst rigorose Vorgehen durch ein eher pragmatisches abgelöst, und zwar umso mehr, als mit dem ‘Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus’ zunehmend deutsche Stellen für die ‘politische Säuberung’ verantwortlich wurden.“41
Trus findet deutliche Worte für die Entwicklungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre: „Bei aller Unterschiedlichkeit der Vorgehensweise zwischen und in den einzelnen Besatzungszonen kann doch festgehalten werden, dass überall die über die Entnazifizierung entscheidenden Stellen spätestens ab 1948 zu ‘rehabilitiertenden Mitläuferfabriken’ mutiert waren.“42 So sind die meisten der nach 1945 Entlassenen in der BRD nach 1948 wieder in den Wissenschafts- oder Anstaltsbetrieb aufgenommen worden.43 In der DDR verhielt es sich kaum anders. „So waren beispielsweise 43,5 Prozent der zwischen 1946 und 1961 amtierenden Ordinarien an medizinischen Fakultäten nominelle Parteigenossen gewesen.“44
„Beredtes Schweigen“ findet sich tragischerweise auch auf Seiten der Betroffen und ihrer Angehörigen. Zum Teil führte die fortwährende gesellschaftliche Akzeptanz der eugenischen Ideologeme zu einer Furcht vor Stigmatisierung, die bis heute anhält. Zum Teil standen auch Schuldgefühle der Angehörigen, den Betroffenen nicht geholfen oder sie nicht gerettet zu haben, einer Auseinandersetzung mit der Verbrechens- und Familiengeschichte im Weg.45 Allerdings gab es durchaus Betroffene, die sich politisch oder literarisch geäußert haben – wenngleich dies eher die Ausnahme als die Regel gewesen ist.
In den 1980ern stieg das Interesse an der Aufarbeitung der NS-Zeit insgesamt, was nicht zuletzt an einem Generationenwechsel gelegen haben dürfte – viele der Direkttäter waren schlichtweg nicht mehr am Leben. Entsprechend fingen Initiativen der im Gesundheitswesen Beschäftigten an, sich mit der Vergangenheit ihrer Institutionen und Berufe auseinanderzusetzen. Seit der Jahrtausendwende sind in einigen ehemaligen „Euthanasie“-Mordstätten Gedenkstätten zu finden.
Endnoten
- Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Zwei Welten, in: Horkheimer, M.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1987, S. 241.
- Vgl. für das Jahr 2022 www.komrex.uni-jena.de/komrexmedia/publikationen/thueringen-monitor/tm2022-lang-bf.pdf (zuletzt abgerufen am 20.09.23)
- Für einen allgemeinen Überblick zur Geschichte des Antisemitismus, vgl. Eriksen, Trond Berg/Harket, Hakon/Lorenz, Einhart: Judenhass. Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart (2005). Göttingen 2019, hier konkret S. 12 f.
- Vgl. ebd. S. 55 ff. Für die ideengeschichtlichen Hintergründe der Ereignisse in Spanien, vgl. Nirenberg, David: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens (2013). München 2015, S. 225 ff.
- Vgl. Geulen, Christian: Geschichte des Rassismus. 4. Aufl., München 2021.
- Vgl. Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. 3. Aufl. Stuttgart 2005.
- Vgl., Bruhn, Joachim: Unmensch und Übermensch. Über das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus, in: Ders.: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. 2. Aufl.. Freiburg 2019, S. 89 – 124; Hoffmann, Jakob: Zur Sozialpsychologie des Rassismus, in: Elbe, Ingo u.a. (Hrsg.): Probleme des Antirassismus. Berlin 2022, S. 278 – 309.
- Vgl. dazu jüngst Schöne, Andrea: Behinderung und Ableismus. Münster 2023.
- Vgl. Geulen a. a. O.
- Vgl. hierzu Wildt, Michael: Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburg 2017. Und prominent Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2010.
- Das Psychogramm derjenigen Menschen, die auf diese Weise denken und handeln, wurde im Frankfurter Institut für Sozialforschung erforscht. Das Theorem vom autoritären Charakter ist bis heute leitend für viele empirische Sozialforschungsstudien zur politischen Einstellung der Bevölkerung. Vgl. hierzu instruktiv: Fromm, Erich: Der autoritäre Charakter (1936), in: Ders.: Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2016, S. 69 – 132.
- Vgl. hierzu Hoßfeld, Uwe: Sonderwege im 20. Jahrhundert: Sozialdarwinismus, Eugenik, Rassenhygiene und Rassenkunde, in: Ders.: Biologie und Politik. Die Herkunft des Menschen. 3. ergänzte Aufl. Erfurt 2007, S. 47 – 58.
- Ebd. S. 26.
- Vgl. Mosse, George L.: Die Geschichte des Rassismus in Europa (1978). Frankfurt a. M. 2006, S. 76 – 86, sowie
- Vgl. Deschner, Günther: Gobineau und Deutschland: Der Einfluß von J. A. de Gobineaus „Essai sur inégalité des races humaines“ auf die deutsche Geistesgeschichte 1853-1917. Erlangen-Nürnberg 1968.
- Für den Zusammenhang von Rassismus und Eugenik in Deutschland ist nach wie vor maßgeblich: Weingart, Peter/Kroll, Jürgen/Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt am Main 1992.
- Plötz, Alfred: Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. Berlin 1895, S. 144 und 147.
- Trus, Armin: Die “Reinigung des Volkskörpers”. Eugenik und “Euthanasie” im Nationalsozialismus. Gießen 2019, S. 31.
- Vgl. Cranach, Michael, Psychiatrie im Nationalsozialismus: Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945. de Gruyter, 2012, S. 22, sowie Trus, S. 66.
- Vgl. hierzu Pulzer, Peter, The Rise of Political Antisemitism in Germany & Austria. London 1988; Sterling, Eleonore: Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815 – 1850). Frankfurt a. M. 1969; Bielefeld, Ulrich: Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich. Hamburg 2003.
- Vgl. Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 1959.
Das Gleiche gilt natürlich auch bezüglich des Rassismus und des Antisemitismus. - Vgl. Postone, Moishe: Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust (1979). Freiburg 2005, S. 165 – 194. Historisch und ideologiekritisch umfassend und gründlich wird der Zusammenhang von „Euthanasie“ und Schoah in Nazideutschland nachgezeichnet, in: Friedländer, Henry: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung (1995). Berlin 1997.
- Das Gleiche gilt für den antisemitisch motivierten Massenmord an als Juden definierten Menschen. Was im Rahmen der Ideologie, einer wahnhaften „Logik“ folgend als Konsequenz schon immer da war – Vernichtung –, tritt realhistorisch erst als Endpunkt eines längeren Prozesses der Radikalisierung in Erscheinung.
- Vgl. Focke, Harald/Reimer, Uwe: Alltag unterm Hakenkreuz. Wie die Nazis das Leben der Deutschen veränderten. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 121 f.
- 1933, RGBl. I, S. 377.
- Vgl. Ayaß, Wolfgang (Hg.): „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933 – 1945. Koblenz 1998, Nr. 84 und Nr. 101.
- 1933, RGBl. I, S. 540.
- Vgl. Humann, Detlev: Arbeitsschlacht – Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939. Göttingen 2011, S. 125.
- Vgl. ebd. S. 120.
- Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. Münster 2010, S. 163.
- Vgl. zum Folgenden Heinemann, Isabel: Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003.
- Hitler wollte alle Kriegerwitwen in Gebärkasernen sperren, in: Wiener Kurier. Herausgegeben von den amerikanischen Streitkräften für die Wiener Bevölkerung, 9. Oktober 1947, S. 4.
- Vgl. Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. Opladen 1986, S. 99.
- Zitiert nach Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. 11. Aufl. Frankfurt a. M., S. 80.
- Benzenhöfer, Udo: „Ohne jede moralische Skrupel“, in: Deutsches Ärzteblatt, JG. 97, H. 42, 20. Oktober 2000, S. A-2766 – A-2772.
- Benannt nach der Berliner Tiergartenstraße 4, in welcher die Zentraldienststelle des NS-Krankenmordes untergebracht war.
- Vgl. hierzu instruktiv Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. München 2015, S. 285 – 304. Bereits hier wurden als Juden definierte Gefangene überdurchschnittlich oft zur Ermordung freigegeben.
- Vgl. Berger, Sara: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg 2013. Den Übergang von den ‚Euthanasie‘-Morden zur Schoah untersucht Henry Friedländer in Ders.: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung (1995). Berlin 1997.
- Trus, Armin, a. a. O., S. 216. Wenn Trus hier von einem fehlenden „Schlussstrich“ spricht, ist das unglücklich formuliert, den das suggeriert den Unwillen, sich kritisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Genau das meint Trus natürlich nicht – er fordert vielmehr eine radikal geänderte Praxis der Institutionen, welche eben gerade eine (Selbst)Kritik notwendig voraussetzt.
- Trus, Armin, a.a.O., S. 217 f.
- Trus, Armin, a.a.O., S. 217.
- Vgl. ebd. S. 218.
- Ebd. S. 219.
- Vgl. Trus, Armin, a.a.O. S. 229