20.02.2025 · Steffi von dem Fange
Die Aufarbeitung der NS-Eugenikverbrechen in der BRD
Etwa 400 000 Männer und Frauen, jung und alt, wurden bis 1945 Opfer der Sterilisationspolitik der Nationalsozialisten. 5000 bis 6000 Frauen und circa 600 Männer starben bei oder infolge der Operation.1
Zu den Zwangssterilisationen kommen Abtreibungen aus „rassenhygienischen“ Gründen hinzu, die häufig gegen den Willen der Schwangeren und insbesondere an Zwangsarbeiterinnen vorgenommen wurden.2 Unter den Zwangsarbeiterinnen führte die hohe Arbeitsbelastung, medizinische Unterversorgung und Mangelernährung vor allem bei jüdischen, polnischen und sowjetischen schwangeren Frauen (sogenannten Ostarbeiterinnen) zu – von den Machthabern beabsichtigten – Fehlgeburten.3
Die radikalste Umsetzung der rassenhygienischen „Auslese“ führten die Nationalsozialisten in den Heil- und Pflegeanstalten, Altenheimen, Strafanstalten, Kinderfachabteilungen und Konzentrationslagern durch, indem sie arbeitsunfähige, psychisch kranke, dauerhaft betreuungs- oder pflegebedürftige Menschen ermordeten. Den Krankenmorden fielen circa 300 000 Menschen zum Opfer.
Für die oftmals traumatisierten Überlebenden und ihre Angehörigen änderte sich mit dem Kriegsende 1945 wenig: Zwar waren sie nicht mehr in akuter Lebensgefahr, doch beherrschten eugenische Überzeugungen, schon vor 1933 weit verbreitet, weiterhin den biopolitischen Diskurs.
Viele Betroffene schämten sich, fühlten sich hilflos, verunsichert und gelähmt,4 was sie über das erlittene Unrecht schweigen ließ – auch in der Familie und gegenüber Freundinnen und Freunden. Und wer sprach, musste mit Gegenwehr rechnen: Auch nach dem Ende des NS-Staates waren Behindertenfeindlichkeit, Empathieverweigerung und die Ablehnung von Verantwortung den Opfern der Eugenikverbrechen gegenüber vorherrschend. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder zu Autoritätsgläubigkeit und Härte sich selbst und anderen gegenüber erzogen werden, schafft sich nur geringe Kapazitäten für einen angemessenen Umgang mit Traumatisierungen und ihren Folgen. Auch unter Angehörigen Betroffener der Eugenikverbrechen bildete sich ein Schweigegebot heraus. Andreas Hechler erläutert dessen Voraussetzungen:
„Der zentrale Grund für die innerfamiliären Schweigegebote und die Verleugnung der ermordeten Familienangehörigen sind die Kontinuitäten des Ableismus.5 Zum einen lebt die gesellschaftliche Stigmatisierung behinderter und psychiatrisierter Menschen fort, zum anderen kann es auch in Familienzusammenhängen überaus komplizierte psychische Konstellationen mit Schuld- und Schamdynamiken geben, wenn beispielsweise die ermordete Tante ‘weggegeben’ wurde oder der ‘anstrengende’ Großvater irgendwann nicht mehr besucht wurde.6 Diese Gefühle dürften noch gesteigert auftreten, wenn die*der ermordete Familienangehörige Diagnosen hatte, die auch heutzutage anrüchig klingen – ‘gemeingefährliche Irre’, ‘krimineller Geisteskranker’ – oder die Zwangssterilisation aufgrund von Anklagen wie ‘Vergewaltigung’, ‘Diebstahl’, ‘Betrug’ u.ä. durchgeführt wurde. Wer dies nach außen kommuniziert, muss damit rechnen, von seinem Gegenüber skeptisch(er) angesehen zu werden. Die […] Gemengelage aus Ableismus, Stigmatisierung, Schuld und Scham kann zu einer innerfamiliären Tabuisierung führen, und tut es häufig auch.“7
Das beredte Schweigen über die NS-Eugenikverbrechen und die fortgesetzte Ausgrenzung der Betroffenen setzte sich Jahrzehnte fort und hinterlässt noch heute deutliche Spuren: in den Städten, in denen nichts an die Verbrechen erinnert; im gesellschaftlichen Diskurs, der das Thema kaum streift; in den Köpfen, die Krankheit und Behinderung als Stigma verstehen.
Die juristische Verfolgung der Täter
Ähnlich wie in der DDR wurden die Opfer der NS-Eugenikverbrechen in der BRD nicht vergessen, sondern bewusst ausgeschlossen. Eine Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ bzw. des Nationalsozialismus wurde ihnen verwehrt. Das erklärt sich zum einen durch personelle Kontinuitäten im Gesundheitswesen beider deutscher Staaten und zum anderen durch die fortwährende Akzeptanz der eugenischen Vorstellung, dass manche Menschen „mehr wert“ seien als andere.
Ins Auge fällt jedoch, dass sich nicht nur viele NS-Täter in Westdeutschland berechtigte Hoffnungen auf eine zweite Karriere – bis in hohe politische Ämter8 – machen konnten, sondern auch eine Besonderheit im Umgang mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.
In Bayern wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1945 aufgehoben, in Hessen sollte es bis auf weiteres nicht mehr angewandt werden, ähnlich wurde es im damaligen Württemberg-Baden gehandhabt. Da die Erbgesundheitsgerichte abgeschafft wurden, konnten keine neuen Sterilisationsanträge gestellt werden – wenn auch das Gesetz weiterhin Geltung hatte.
In der britischen Besatzungszone entschied man sich, auf seiner Grundlage Wiederaufnahmeverfahren an den Amtsgerichten zu ermöglichen.9 Von den Zwangssterilisationen Betroffene konnten sich um ein solches Verfahren bemühen, um einen Härteausgleich zu erhalten oder die Kosten für den Versuch, die Fruchtbarkeit operativ wiederherzustellen, erstattet zu bekommen.
Wiederaufnahmeverfahren
Was dies für sie konkret bedeutete, schildern Kathrin Braun und Svea Luise Herrmann: Sie „mussten […] darlegen, dass in ihrem individuellen Fall die Sterilisation nach NS-Recht unrechtmäßig gewesen war, da z. B. die Diagnose falsch war oder Verfahrensfehler vorgelegen hatten“.10 Das hieß dann nicht selten, den früheren Peinigern wieder in einer ähnlich traumatischen Situation gegenüberzustehen: „Häufig kamen dabei die alten Dokumente und Gutachten, die bereits den NS-Erbgesundheitsgerichten vorgelegen hatten, erneut zum Einsatz, manchmal auch die damaligen Richter und Gutachter.“
Die Chance, ein solches Verfahren zu gewinnen, war gering. Wie Ernst Klee schreibt: „Überlebende NS-Opfer haben erfahren müssen, daß Tätern mehr geglaubt wird als ihnen“11 –auch im Falle der Wiederaufnahmeverfahren galt das Wort der Gutachter, Ärzte und Richter immer noch mehr als das Wort ihrer Opfer.
Mit der Praxis der Wiederaufnahmeverfahren, die bis in die achtziger Jahre noch stattfanden,12 setzte sich die Herabwürdigung der Betroffenen unvermindert fort: „Die Rechtsgrundlage dieser Prozesse war das NS-Sterilisationsgesetz selber, so dass der Unrechtscharakter des Gesetzes selbst in diesem Rahmen nicht thematisierbar war. Im Gegenteil: das Gesetz wurde operativ – durch das Handeln der Akteure – immer wieder als gültig bestätigt.“13
Eugenisches Denken
Mit der fortdauernden Gültigkeit der Sterilisationsbeschlüsse und der Anwendung des Gesetzes durch die Wiederaufnahmeverfahren wurden auch Grundprinzipien des eugenischen Denkens – die unterschiedliche Wertigkeit der Menschen abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit, der Vorrang einer abstrakten erbbiologischen „Volksgesundheit“ gegenüber dem individuellen Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung – in der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft als moralische Grundsätze bekräftigt.
In den fünfziger Jahren wurde sogar die Vereinbarkeit des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mit dem Grundgesetz14 gerichtlich vom Oberlandesgericht Hamm wie gutachterlich von Ernst-Walther Hanack festgestellt. Das bedeutete, dass das Sterilisationsgesetz nicht automatisch als durch das Grundgesetz „aufgehoben“ galt. Der Gutachter Hanack ging sogar so weit zu behaupten, die Ablehnung einer Zwangssterilisation wiederspreche der „Verpflichtung, die Rechte anderer“ – gemeint ist der „Erhalt der Volksgesundheit“ – „zu achten.“15
Entschädigungspolitik
Das 1953 in der BRD erlassene Bundesentschädigungsgesetz, das Verfolgten des Nationalsozialismus eine Entschädigung in Aussicht stellte, verfestigte ebenfalls die fortbestehende Ausgrenzung der Opfer der nationalsozialistischen Eugenikverbrechen: Anträge auf Entschädigung konnte nur stellen, wer im NS-Staat aus „Gründen politischer Gegnerschaft“ oder aus „Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verfolgt wurde. Eine zwangssterilisierte Person hatte lediglich dann ein Anrecht auf Entschädigung, wenn sie „nicht aufgrund eines Erbgesundheitsgerichtsbeschlusses“ – also ohne Gerichtsverfahren – „sterilisiert wurde“.16 Auf die wenigsten der circa 400 000 Opfer der Zwangssterilisation traf dies zu.
Damit waren Ida Werner, Klara Schwägler, Kurt Apel und die Hunderttausenden anderen Betroffenen der Zwangssterilisation, wie Braun und Herrmann klarstellen, „keine ‘vergessenen Opfer’, wenn es solche überhaupt je gegeben hat, sondern sie waren bewusst aus Entschädigungsregelungen ausgeschlossen worden“.17
Begründet wurde dies damit, dass die nationalsozialistischen Zwangssterilisationen lediglich ein Beispiel eugenischer Maßnahmen gewesen seien, wie es sie auch in anderen Staaten gab: In den skandinavischen Ländern, der Schweiz und den USA wurden Menschen ebenfalls unter Zwangsanwendung sterilisiert, um ein spezifisch nationalsozialistisches Unrecht könne es sich daher nicht handeln.
Dieses Argument wurde insbesondere von NS-Tätern oft hervorgebracht.18
Die Rede vom nicht NS-spezifischen Unrecht ignoriert dreierlei: die massenhafte und staatlich verwaltete Umsetzung der Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus sowie die damit verbundene massive Gewaltanwendung.19
Allein das quantitative Ausmaß sei anhand einiger Zahlen von Gisela Bock verdeutlicht:
„Während des Höhepunkts der internationalen Rassenhygiene, von 1933 bis 1945, wurden […] in Deutschland rund 14 mal so viele Menschen sterilisiert wie in den gesamten Vereinigten Staaten. In Deutschland wurden 1933–45 rund 10 mal so viele Menschen sterilisiert wie in den Vereinigten Staaten zwischen 1907 und 1945; bezogen auf die Bevölkerung, wurde vor 1945 in Deutschland über 30 mal so häufig sterilisiert wie in den USA.“20
Ein Beispiel aus Weimar: Waldemar Freiensteins Entnazifizierung
Auch der Weimarer Amtsarzt Waldemar Freienstein machte sich die Rede von der nicht NS-spezifischen Erb- und Rassenpflege zunutze. In seiner Stellungnahme zum Fall Ida Werner betonte er noch, dass „Erbbiologie und Rassenhygiene […] vorwiegend nationalsozialistische Gedanken enthalten“21 und „weltanschaulich-politisch fundiert“22 sind und daher von politisch unzuverlässigen, wenn auch fachlich hervorragenden Ärzten nicht „verstanden“ und umgesetzt werden können.
Gut zehn Jahre später – er hatte inzwischen eine dreijährige Internierung in der amerikanischen und der französischen Besatzungszone hinter sich – verfasste er eine weitere Stellungnahme. Der Spruchkammer Gießen, die 1949 über seine „Entnazifizierung“ entschied, teilte er mit: „Es ist durchaus nicht so, […] dass die Wissenschaft der Erbbiologie und Rassenhygiene eine spezifisch nationalsozialistische sei. Es ist eine in der ganzen zivilisierten Welt anerkannte, praktisch und theoretisch betriebene, exakte Wissenschaft […]. Die Beschäftigung mit diesem Fachgebiet war demnach keine spezifisch nationalsozialistische, sondern eine korrekt wissenschaftliche. Eine Sonderausbildung auf diesem Gebiet und Spezialkenntnisse hierin sind auch heute noch ein anerkannter Vorteil.“
Der ehemalige Amtsarzt ergänzte: „Dem Fachmann hierin werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes wieder ‘berufliche Möglichkeiten eröffnet’. Die anglo-amerikanische Wissenschaft kämpft z. Zt. einen heftigen Kampf gegen die politisch-inaugurierte sowjetische Meinung; es kann kein Zweifel sein, dass sich die reine Wissenschaft des Westens auf die Dauer durchsetzen wird.“23
Freienstein erwartete also die – durchaus diskutierte – erneute Anwendung eines Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in der BRD, und er erhoffte sich „berufliche Möglichkeiten“, die sich ihm als „Fachmann“ damit eröffnen würden. Über das „weltanschaulich-politische“ Fundament seiner „Fachkenntnisse“ behielt er Stillschweigen, zumindest vor Gericht.
Mit diesen An- und Aussichten war Weimars ehemaliger Amtsarzt nicht allein. Während die von Zwangssterilisationen Betroffenen weiterhin stigmatisiert, ausgegrenzt und beschämt wurden, stilisierten sich die Täter als bloß pflichtbewusste Ärzte und Richter ohne jeden Handlungsspielraum und machten wieder Karriere. Einige genierten sich nicht, sich als Gegner des Nationalsozialismus zu bezeichnen.
Waldemar Freienstein wurde in seinem Entnazifizierungsverfahren durch verschiedene „Persilscheine“ entlastet, darunter ist einer von Gerhard Kloos – dem früheren Leiter der Landesheilanstalten Stadtroda, der bald wieder eine Klinik leiten sollte und ab 1954 sogar gerichtlicher Sachverständiger für Wiedergutmachungsangelegenheiten war.
Freienstein selbst schrieb, was viele Täter kundtaten und womit sie sehr erfolgreich waren: „Ich habe nicht im Sinne der ‘NS-Machthaber’, sondern im Sinne der Gesetze fungiert, die für jeden Beamten maßgebend waren. Ich glaube nicht, dass es im Sinne des Säuberungsgesetzes liegt, jeden Beamten des III. Reiches, der seine Pflicht getan hat, zum Belasteten zu stempeln.“24 Einige Auslassungen später behauptete er gar: „Ich habe mich nicht ‘fanatisch und überdurchschnittlich für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft eingesetzt’ (siehe Entlastungszeugnisse, besonders auch das des Dozenten Dr. Dr. G. Kloos vom 25.1.49). Ich habe die Gewaltherrschaft sogar bekämpft […]. Meine Anschauung war ein nationaler Sozialismus eigener Prägung ohne Gewalt.“25
Freienstein, der „Kämpfer gegen die NS-Gewaltherrschaft“, wurde schließlich als Minderbelasteter der Stufe III bezeichnet und zur Zahlung von 250 DM verurteilt. Ein Jahr später eröffnete er in Germersheim am Rhein eine Arztpraxis. Er starb 1967.
Täterkarrieren und Tätermacht
1961 beriet der Bundestagsausschuss darüber, ob Betroffene der Zwangssterilisationen ein Recht auf Entschädigungszahlungen erhalten sollten. Hierzu wurden als Sachverständige angehört: Helmut E. Ehrhardt, Hans Nachtsheim und Werner Villinger. Die Wahl der Fachleute spricht Bände über den damaligen Zustand der bundesdeutschen Aufarbeitung nationalsozialistischer Eugenikverbrechen: Der Neurologe Ehrhardt hatte sich als Gutachter am Erbgesundheitsgericht betätigt, zum Zeitpunkt der Beratung war er am Marburger Lehrstuhl für Forensik und Sozialpsychiatrie tätig. Hans Nachtsheim leitete ab 1941 die Abteilung für experimentelle Erbpathologie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, das „medizinische“ Versuche an Menschen im KZ Auschwitz mit betreute. 1951 stand er dem Institut für Genetik an der FU Berlin vor. Der Rassenhygieniker Werner Villinger war Richter an den Erbgesundheitsobergerichten Hamm und Breslau, T4-Gutachter sowie Chefarzt der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel. Bis Herbst 1936 stellte er 2854 Anzeigen auf Unfruchtbarmachung der Pfleglinge und ließ – illegal – Sterilisationen an Ausländer*innen durchführen.26 1948 war er einer jener Ärzte, die sich um ein neues Eugenik-Gesetz bemühten,27 und bekleidete danach noch ein Jahrzehnt lang Führungspositionen an der Marburger Universität und Universitäts-Nervenklinik.
Villinger und sein früherer Schüler Ehrhardt stellten sich gegenseitig gewagte, doch erfolgreiche „Persilscheine“ aus (Villinger habe die Euthanasie stets bekämpft, Ehrhardt sei im aktiven Widerstand tätig gewesen) und wurden entnazifiziert. Auch Nachtsheim hatte nichts zu befürchten.28 Diese Lebenswege erinnern nicht zufällig an Ida Werners Gutachter Eckhardt, dem noch Ende der 1990er Jahre eine „kämpferische[] Abwehrhaltung gegen dieses menschenfeindliche Gesetz [zur Verhütung erbkranken Nachwuchses]“ bescheinigt wurde.
Nun, 1961 vor dem Bundestagsausschuss, plädierten die drei Sachverständigen dafür, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nicht als NS-Unrecht, sondern als maß- und verantwortungsvolle Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verstehen. Villinger prognostizierte den Geschädigten im Falle ihrer Anerkennung als „Verfolgte des Nationalsozialismus“, an einer „Entschädigungsneurose“ zu erkranken: „Es ist die Frage, ob dann nicht neurotische Beschwerden und Leiden auftreten, die nicht nur das bisherige Wohlbefinden und […] die Glücksfähigkeit dieser Menschen, sondern auch ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.“29 Hier meinten die Ärzte wieder besser als die Betroffenen selbst zu wissen, wie es ihnen geht.30 Eine Entschädigung wurde den Opfern der Zwangssterilisationen daraufhin über Jahrzehnte verwehrt.
Später Wandel
Die in der BRD lebenden Betroffenen der Zwangssterilisationen befanden sich 1968 also in folgender Situation:
Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fand noch praktische Anwendung in Wiederaufnahmeverfahren, die noch lange nach 1945 überzeugtes NS-Personal beschäftigten und die Klägerinnen und Klägern oft mit dem Verweis, sie seien keine Verfolgten des Nationalsozialismus, abwiesen. Die Chance, eine Entschädigungszahlung zu erhalten, war gering und erforderte den Nachweis, dass das Sterilisationsgesetz nicht korrekt angewendet wurde. Justiz und Ärzteschaft waren durchsetzt von Altnazis, sozialdarwinistische und eugenische Überzeugungen wurden als „normal“ und vernünftig angesehen. Die Urteile zur Zwangssterilisation waren noch immer gültig, das Stigma der erbbiologischen „Minderwertigkeit“ haftete den Betroffenen weiterhin an. Das hieß z. B., dass ihnen auch in der BRD die Adoption eines Kindes verwehrt werden konnte.
Erst 1969 wurde das Gesetz in der BRD offiziell in wesentlichen Teilen, 1974 dann vollständig außer Kraft gesetzt – und dennoch fanden weiterhin Wiederaufnahmeverfahren auf seiner Grundlage statt. Es verging wieder ein Jahrzehnt, bis 1986 ein Gericht – das Kieler Amtsgericht – feststellte, dass das Gesetz dem Grundgesetz widerspreche.
Die Urteile der Erbgesundheitsgerichte, deren Rechtmäßigkeit noch bis in die achtziger Jahre individuell bestätigt oder verworfen wurde, bezeichnete der Bundestag 1988 schließlich als NS-Unrecht. Dennoch blieben sie gültig – bis sie 1998 aufgehoben wurden.
Erst 1980 konnten zwangssterilisierte Menschen Entschädigungszahlungen erhalten. Die jüngsten unter ihnen dürften zu dem Zeitpunkt um die fünfzig Jahre alt gewesen sein. Es war die Zeit der Psychiatriereform, in der Betroffene sich organisierten und u. a. den Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten gründeten.
Auch die Antipsychiatriebewegung, die sich in der BRD z. B. in der Arbeit der Westberliner Irren-Offensive zeigte, und die Psychiatriereform, die von einer neuen Generation von Psychiater*innen initiiert wurde, änderten langsam den gesellschaftlichen Diskurs über Gewaltanwendung im gesundheitlichen Bereich.
Offiziell als NS-Unrecht geächtet wurde das Sterilisationsgesetz der Nationalsozialisten erst 2007. Die von den Opfergruppen geforderte Nichtigkeitserklärung des Gesetzes wurde allerdings abgelehnt und ist bis heute nicht geleistet worden – mit dem Hinweis, das Gesetz sei seit Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr gültig. Diese Verweigerung ignoriert den Umstand, dass die Praxis bundesdeutscher Politik und Rechtsprechung jahrzehntelang den Widerspruch zum Grundgesetz nicht anerkannt hat.
Das Unrecht zweiter Ordnung
Braun und Herrmann nennen die Geschichte der bundesdeutschen Entschädigungspolitik ein „Unrecht zweiter Ordnung“. Sie weisen auf die Problematik hin, dass „die Ächtungserklärung von 2007 zwar das Unrecht erster Ordnung“ – d.h. die Zwangssterilisationen – thematisiere, jedoch „die Reflektion auf das Unrecht zweiter Ordnung“ ausschließe, „indem sie es für unnötig erklärt. Der Unrechtsdiskurs bleibt auf das Unrecht des Nationalsozialismus beschränkt, das Unrecht, welches in der Bundesrepublik geschehen ist, wird entproblematisiert.“31
Eine Aufarbeitung der NS-Eugenikverbrechen erfordert auch den Blick auf den Umgang mit ihren Opfern in der BRD und DDR. Noch heute allerdings wird diesbezüglich wenig unternommen.
Im November 2022 wurde der Historiker Wolfgang Benz im Rahmen einer Ausschusssitzung im Bundestag gefragt, ob er eine Nichtigkeitserklärung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses befürworte. Seine Antwort ist deutlich und bis heute – Stand 2025 – aktuell:
„Es ist schwer verständlich, dass es bis 2007 gedauert hat, bis der Scheinfortexistenz dieses Gesetzes aus dem Jahr 1933, das seit 1934 in Kraft war, ein Ende gesetzt wurde.
Eine Ächtung bedeutet allerdings nicht die Beseitigung. […] Die absolute Beseitigung dieses Gesetzes in seiner Scheinexistenz – angewendet wird es seit langer Zeit nicht mehr – ist absolut notwendig. Mit einem solchen Gesetz, auf das man sich im Zweifelsfall noch berufen kann, kann kein Fortschritt in der Erinnerung, im Gedenken, in der Anerkennung der Verfolgten gelingen.“32
Im August 2023 lebten noch 18 registrierte beihilfeberechtigte Zwangssterilisierte,33 der Bund der “Euthanasie”-Geschädigten und Zwangssterilisierten, der die Interessen der Opfer vertrat, ist seit Ende 2024 aufgelöst: Inzwischen sind fast alle Betroffenen verstorben.
Schließlich – fast achtzig Jahre hat es gedauert – wurden die Opfer der NS-Eugenikverbrechen im Januar 2025 offiziell als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Allerdings gibt es kaum noch Betroffene, die dies erleben können.
Endnoten
- dserver.bundestag.de/btd/16/038/1603811.pdf
- Gisela Bock schätzt die Zahl dieser Abtreibungen auf mindestens 30.000. Vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, MV Wissenschaft, Münster 2010, S. 433. Auch in Weimars „Ausländerkrankenhaus“ – der medizinischen Einrichtung für Zwangsarbeiter*innen an der Dürrenbacher Hütte – wurden Abtreibungen vorgenommen. Der verantwortliche Arzt war Waldemar Freienstein.
- Vgl. Bock, a.a.O., S. 481 f.
- Vgl. u. a. Susanne Hartig: “Trauma und transgenerationale Übertragung traumatischer Erfahrungen: der Fall Annemarie Siegfried und seine Folgen”, in: Rebekka Schwoch (Hg.), Umgang mit der Geschichte der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation, Berichte des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, Bd. 13, Köln 2023, Psychiatrie-Verlag, S. 108
- „Ableismus“ bezeichnet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, indem sie als „weniger wert“ und weniger befähigt angesehen werden. Ableismus führt zu und nährt sich aus Stereotypen und verengtem Denken, sozialer Behinderung und Ausgrenzung der Betroffenen.
- Vgl. u. a. Schwoch, a.a.O., S. 108
- Andreas Hechler: „Tradierung im Feld der NS-‘Euthanasie’ – Probleme der gedenkpolitischen Arbeit durch Angehörige“, in: Umgang mit der Geschichte der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation, hg. v. Rebecca Schwoch, Köln 2023, Psychiatrie-Verlag
- Einen Überblick bietet die Studie von Sylvia Veit von 2021: https://www.uni-kassel.de/uni/aktuelles/sitemap-detail-news/2021/04/22/so-viel-nsdap-vergangenheit-hatte-die-bonner-elite-der-adenauerzeit?cHash=d7bd0b4c7e2231f047494ee1461ece5e. Sie kann online abgerufen werden unter https://kobra.uni-kassel.de/handle/123456789/12535.
- An der Tür des Kieler Amtsgerichts hing 1957 noch ein Schild mit der Aufschrift „Erbgesundheitsgericht“. Vgl. Kathrin Braun, Svea Luise Herrmann: „Unrecht zweiter Ordnung: Die Weitergeltung des Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses in der Bundesrepublik“, in: Sonja Begalke, Claudia Fröhlich, Stephan Alexander Glienke (Hg.): Der halbierte Rechtsstaat. Demokratie und Recht in der frühen Bundesrepublik und die Integration von NS-Funktionseliten, Baden-Baden 2015, Nomos, S. 233 und Horst Illiger: Sprich nicht drüber! Der Lebensweg von Fritz Niemand, Neumünster 2004, Die Brücke Neumünster, S. 104. Dass diese Wiederholung traumatisierender Situationen für die Betroffenen eine psychische Belastung bedeutet, liegt auf der Hand. So sprechen auch sehr viele Betroffene über „seelische Schmerzen“. Vgl. Wolfgang Ayaß: Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus (Sammelrezension), in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 10, Berlin 1992, S. 226–229
- Kathrin Braun, Svea Luise Herrmann: Unrecht, a.a.O., S. 227
- Ernst Klee: „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a.M. 2022, Fischer, S. 499
- Kathrin Braun, Svea L. Herrmann, Ole Brekke: Zwischen Gesetz und Gerechtigkeit – Staatliche Sterilisationspolitiken und der Kampf der Opfer um Wiedergutmachung, in: KJ Kritische Justiz, 2012 (3), S. 298-315, abrufbar unter https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0023-4834-2012-3-298/zwischen-gesetz-und-gerechtigkeit-staatliche-sterilisationspolitiken-und-der-kampf-der-opfer-um-wiedergutmachung-jahrgang-45-2012-heft-3?page=1, S. 302
- Braun, Herrmann: Unrecht, a.a.O., S. 227 f.
- Dessen erster Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
- Braun, Herrmann: Unrecht, a.a.O., S. 228
- Lars Polten: Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Erinnern und Erzählen. Biographische Interviews mit Betroffenen und Angehörigen, Studien zur Volkskunde in Thüringen Bd. 10, Münster 2020, Waxmann, S. 39
- Braun, Herrmann: Unrecht, a.a.O., S. 230
- Ebd.
- Vgl. ebd., S. 226
- Bock, S. 259
- LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 152r
- LATh-HStAW, Erbgesundheitsgericht Jena 425, Bl. 155r
- Schreiben von Waldemar Freienstein an die Spruch- und Berufungskammer Gießen vom 10. Februar 1949, S. 3, Entnazifizierungsakte zu Waldemar Freienstein, Sammlung Freienstein/Nielsen
- Ebd., S. 4. Den Verweis auf die bloße Pflichterfüllung bringt auch Adolf Eichmann – Organisator der Deportationen jüdischer Menschen in Vernichtungslager – bei seinem Prozess in Jerusalem an. Er beruft sich in seiner Verteidigung sogar auf den Pflichtbegriff Kants, um jede Verantwortung von sich zu weisen, was die Prozessbeobachterin Hannah Arendt später kommentiert mit: „Kein Mensch hat bei Kant das Recht, zu gehorchen.“ S. www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/114/194
- Schreiben von Waldemar Freienstein an die Spruch- und Berufungskammer Gießen vom 10. Februar 1949, S. 5
- Klee, a.a.O., S. 177
- Polten, a.a.O., S. 39, Fn. 50
- Der jüngste von ihnen, Helmut Ehrhardt, sollte noch bis in die achtziger Jahre hohe gesundheitspolitische und akademische Positionen bekleiden: Er war im Sachverständigenbeirat für Seelische Gesundheit der WHO sowie im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer, er war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, Landesarzt für Behinderte in Hessen, Präsident der Europäischen Liga für Psychische Hygiene, Mitglied im Bundesgesundheitsrat, 1980 schließlich in die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina berufen. Er starb 1997 als Ehrenmitglied des Weltverbandes für Psychiatrie.
- https://dokumen.pub/konzeptgeschichten-zur-marburger-psychiatrie-im-19-und-20-jahrhundert-1nbsped-9783737009959-9783847109952.html
- https://www.aerzteblatt.de/archiv/54007/Gesetz-zur-Verhuetung-erbkranken-Nachwuchses-Aechtung-nach-74-Jahren
- Braun, Herrmann: Unrecht, a.a.O., S. 232 f.
- Ebd., S. 224 f.
- Wortprotokoll der 14. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien, Bundestag, Berlin, 26.9.2022, S. 20