Graphic Novel: "Ausradiert – nationalsozialistische Eugenikverbrechen in Thüringen"

© Anke Zapf, Ausradiert, Bertuch-Verlag Weimar 2025
Warum erzählen wir diese Geschichten?

© Anke Zapf, Ausradiert, Bertuch-Verlag Weimar 2025
Ausradiert – ein schonungsloser Buchtitel, der sich am Ende eines langen Weges als der einzig richtige erweisen sollte – weil er fasst, was bis heute für uns unfassbar ist: der völlige Verlust von Menschlichkeit.
Anke Zapf begibt sich mit Bleistift und Radiergummi auf Spurensuche. Es ist ein Prozess, geprägt von intensiver Vorarbeit, ein Prozess des sich Einlassens und Einfühlens. Irgendwann kommt ein roter Stift dazu – bewusst gewählt, einen Kontrapunkt zu setzen, das Schweigen von damals aufzubrechen, dem Verdrängen von heute vorzubeugen. In einer Bildsprache, die zuweilen schwer aushaltbar ist, zeichnet sie die Lebenswege von Menschen nach, die irgendwann in den 1930er Jahren aus ihrem Alltagsleben gerissen wurden. Die mit jedem behördlichen oder ärztlichen Schreiben, das in ihrem Briefkasten landete, ein Stück weiter in einen Alptraum von Ausgrenzung, Verunsicherung, Entwürdigung und Scham gezogen wurden. Mit der Begründung, sie seien minderwertig, wurden ihnen ihre Lebensentscheidungen aus der Hand genommen und die Kontrolle über ihren Körper entrissen. Sie wurden isoliert, geprüft, vor Gericht gestellt, gedemütigt, unter Anwendung von Gewalt sterilisiert und in Anstalten oder Heime zwangseingewiesen. Am Ende hat man sie verhungern lassen oder durch Medikamentenüberdosierungen oder Gas getötet. Der Prozess der Ausgrenzung, der bei Hunderttausenden Menschen bis zu ihrer Ermordung führte, spiegelt sich in den Zeichnungen von Gesichtern wider, die ihre Konturen, ihre Lebensgeister verlieren, bis schließlich nur noch Spuren eines Verlustes übrigbleiben, der jahrzehntelang selten benannt wurde.

© Anke Zapf, Ausradiert, Bertuch-Verlag Weimar 2025

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Diese Graphic Novel ist Bestandteil des Projekts Beredtes Schweigen – NS-Eugenikverbrechen und ihre Folgen und basiert auf dessen Biographierecherchen. Das Projekt führt Arbeiten der Kooperationspartner Lernort Weimar e.V., AG Biologiedidaktik / Universität Jena und junges theater stellwerk Weimar zusammen. Es bringt die Ergebnisse von Recherchen in Archiven und Literatur sowie die Erkenntnisse aus Gesprächen mit Nachfahren von Betroffenen an Schulen, in Kliniken, ins Internet und auf die Theaterbühne. Es regt mittels Performances, Ausstellungen, Gesprächsrunden, Fassadenprojektionen und Workshops zur Reflexion an und vor allem: Es erzählt Lebensgeschichten, über die jahrzehntelang geschwiegen wurde.

© Anke Zapf, Ausradiert, Bertuch-Verlag Weimar 2025

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In den Gesprächen mit Theaterpublikum, Nachfahren, Schüler*innen und Veranstaltungsteilnehmer*innen gelangen wir früher oder später zu der Frage nach den Gründen für dieses Schweigen. Der gesellschaftliche Diskurs streift den Umgang mit den NS-Eugenikverbrechen in BRD und DDR, seit 1945 und bis heute kaum. Auch nach dem Ende des NS-Staates waren Behindertenfeindlichkeit, Empathieverweigerung und die Ablehnung von Verantwortung den Opfern der Eugenikverbrechen gegenüber vorherrschend. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder zu Autoritätsgläubigkeit und Härte sich selbst und anderen gegenüber erzogen wurden, schaffte sich nur geringe Kapazitäten für einen angemessenen Umgang mit Traumatisierungen und ihren Folgen.
Und auch heute wird die gesellschaftliche Inklusion von Menschen mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung als ein Randthema angesehen, etwas, das man sich „leisten“ können muss. Zugleich werden wieder Stimmen lauter, die es als „Irrweg“ bezeichnen, Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen gleiche Chancen und eine aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Sie fordern generell einen „Schlussstrich“ oder eine „180-Grad-Wende in der Erinnerungskultur“ und prangern einen „Schuldkult“ an, weil sie für die Unterscheidung von Schuld und Verantwortung, für Differenzierungen und die Anerkennung der Komplexität des Lebens nicht die Geduld, Kraft oder den Mut aufbringen. Und ob man sich heute an diesen immer lauteren Misstönen beteiligt oder nicht: In vielen Köpfen sind Krankheit, Behinderung, „Schwäche“, „Unproduktivität“ noch immer ein Stigma. Demnach hat ein gutes Leben nicht „verdient“, wer nichts „leistet“ – wobei Leistung stets in bare Münze umzurechnen sei.
Anke Zapf zeichnet in diesem Buch den Weg der Ausgrenzung nach. Wir kennen den Verlauf: Der Definition dessen, was „anders“ ist als „wir“, folgt seine Separierung. Mit Hilfe von Lügen und Vereinfachungen werden Feindbilder aufgebaut, und den Worten folgen Taten: Isolation, Entrechtung, Entmündigung, Ausbeutung.
Angesichts des Fortbestehens des eugenischen Denkens, das Menschen einen höheren oder niedrigeren Wert zuschreibt – überrascht es da, dass Betroffene und ihre Angehörigen kaum den Mut fanden, über das Unrecht zu sprechen, das ihnen widerfuhr, weil sie als „asozial“ und „erbkrank“ abgestempelt wurden? Es ist ein Leid, das auch gesellschaftlich nicht verwunden wurde, weil ein Tabu das Trauma über Generationen lebendig erhalten hat.

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Eine Folge davon ist, dass die nationalsozialistischen Eugenikverbrechen kaum in der Erinnerungs- und Gedenkkultur präsent sind: Es hat fast 80 Jahre, bis Januar 2025, gedauert, bis die Betroffenen als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden. An ehemaligen Gesundheitsämtern und Erbgesundheitsgerichten, Heimen und Krankenhäusern weist nichts auf die damaligen Zwangssterilisationen und Auslieferungen von Schutzbefohlenen und Patient*innen an die Tötungsanstalten hin. Diese Einrichtungen gab es in beinahe jeder Stadt, in unserer, in Ihrer Nachbarschaft. In jeder Straße lebten Menschen, die davon betroffen waren. Doch nichts in unseren Straßen gibt diese Geschichten seiner früheren Bewohner*innen preis, wenn nicht gerade ein Stolperstein an eines der Opfer der NS-Eugenikverbrechen erinnert.
Beschäftigt man sich mit diesen Vorgängen, führt die Konfrontation mit der Radikalität, der Gewalt und der Menschenfeindlichkeit der NS-Verbrechen oft auch zu der Frage, wie es möglich war, dass diese Verbrechen mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung stattfinden konnten. Und konkreter: Wie konnte sich die große Mehrheit der Ärzte und des Pflegepersonals, die doch dem hippokratischen Eid verpflichtet sind, in ein Gesundheitssystem einspannen lassen, das das Wohlergehen und Leben des Einzelnen einem Abstraktum – der Züchtung eines „rassisch reinen“ und „gesunden Volkskörpers“ – unterordnete?

© Anke Zapf, Ausradiert, Bertuch-Verlag Weimar 2025
Dass es eine Fehlannahme ist, dass die Menschen vor achtzig Jahren „anfälliger“ für Autoritarismus waren, als wir es heute sind, lässt sich zurzeit täglich in den Medien verfolgen. Der Weg zur Täter- und Mittäterschaft und zu ihrer Unterstützung durch Passivität kann heute wie damals über Anreize und Einschüchterung führen. Menschen lassen sich dazu verführen, locken und drängen, Täter*innen zu werden oder diese zu unterstützen.
Vertiefen sich die wirtschaftlichen und sozialen Krisen, verstärkt sich die Zustimmung zu reißerisch-emotionalisierenden Parolen und menschenfeindlichen Positionen, steigt die Verachtung für komplexe demokratische Abläufe und das Sehnen nach „einem, der durchgreift“, der langwierige Entscheidungsfindungen „vereinfacht“. Diese „Vereinfachung“ ist eine Verarmung. Sie ist meist damit verbunden, Akteuren aus Kunst und Kultur, Bildung und politischer Opposition, Zivilgesellschaft und sozialem Bereich die Arbeit zu erschweren. Damit werden die Stimmen der Kritiker*innen, der sozial Schwachen, der Kinder, der Kranken, der Menschen mit Behinderungen, der Menschen, die nicht der vermeintlichen „Norm“ entsprechen, nicht mehr gehört, nicht mehr berücksichtigt, zum Schweigen gebracht.

© Anke Zapf, Ausradiert, Bertuch-Verlag Weimar 2025
Wir erzählen diese Geschichten, damit Kurt Apel, Klara Schwägler, Erika Haase, Ida Werner und Theo Sommer wieder ein Gesicht, eine Sichtbarkeit bekommen, und damit Sie Herz, Augen und Ohren offenhalten für die Zwischentöne und Verschiedenheiten, die unser Leben bereichern.

© Anke Zapf, Ausradiert, Bertuch-Verlag Weimar 2025

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Die Graphic Novel ist kostenfrei erhältlich bei Lernort Weimar e.V.: kontakt (at) lernort-weimar.de.